«Never Rarely Sometimes Always» von Regisseurin und Drehbuchautorin Eliza Hittman zeichnet ein intimes und inniges Porträt zweier Teenager-Mädchen. In einem minimalistischen Stil auf 16mm gefilmt zeigt Regisseurin Eliza Hittman, wie Autumn die Entscheidungshoheit über ihren Körper und ihre Seele zurückgewinnen will. Für arttv Filmkritikerin Madeleine Hirsiger ist das starkes Kino: das Elend, die Verzweiflung, die Verletzung, die Hilflosigkeit.
Never Rarely Sometimes Always
arttv Rezension
Der Titel des Films «Never Rarely Sometimes Always» nennt die vier Möglichkeiten, um auf die Frage in einer Klinik in New York zu antworten: ob man beim Sex geschlagen, vergewaltigt oder sonst malträtiert worden sei. So ergeht es auch der 17jährigen schwangeren Autumn, die für eine Abtreibung zuerst Hilfe bei einer Beratungsstelle in ihrer Nachbarschaft sucht. Dort wird sie wird zum Austragen des Kindes gedrängt, um es zur Adoption freizugeben. Weil Autumn das nicht will, nimmt sie den Weg nach New York unter die Füsse, in der Hoffnung auf Hilfe. Begleitet wird sie von ihrer Cousine Skylar (Talia Ryder), die im selben Supermarkt wie Autumn ihre Tage an der Kasse verbringt. Daraus zweigen sie ein paar Geldscheine ab, um heimlich in einen Nachbus zu steigen, wortkarg und deprimiert. Ziel New York!
Es ist die junge Amerikanerin Sidney Flanigan, die mit ihrer ersten Filmrolle den Zuschauer – wohl noch eher die Zuschauerin – sofort in ihren Bann zieht. Beim Casting hat sie alle Profis und Halbprofil ausgestochen. Sie spielt Autumn mit einer leisen Eindringlichkeit. Sie hat ihre Rolle so internalisiert, dass man der Intensität kaum ausweichen kann.
Wir werden mitgenommen auf eine Reise ins Ungewisse, in einem Film, der fast ohne Worte auskommt. Es ist beachtenswert, was die amerikanische Regisseuren Eliza Hittman hier gelingt, die Kamera immer nah an den beiden jungen Frauen, schnörkellos und fast dokumentarisch. Und wir sind dabei, wenn Autumn die erste Untersuchung in einer Klinik machen muss. Hier erfährt sie, dass sie bereits in der 18. Woche schwanger ist. Endlich bekommt sie die erhoffte Unterstützung. Der Eingriff muss an zwei Tagen durchgeführt werden. Das heisst, sich zweimal eine Nacht in New York um die Ohren schlagen. Die Stunden sind lang und kühl, auf den Strassen, in der Metro, in Wartehallen, irgendwo in der Grossstadt zwischen Obdachlosen und Einsamen. Man ist nah dran an den beiden jungen Frauen und der Einsatz von 16mm Filmmaterial bringt eine Grobkörnigkeit auf die Leinwand, die dem Geschehen weiter Autentizität verleiht.
Und während Autumn in der Klinik auf die Frage nach der an ihr verübten Gewalt die vier zur Verfügung stehenden Antworten abwägt, bleibt die Kamera auf dem Gesicht von Sidney Flanigan ruhen. Was sie uns da zeigt, ist starkes Kino: das Elend, die Verzweiflung, die Verletzung, die Hilflosigkeit. Nicht umsonst wurde der Film an der diesjährigen Berlinale mit dem Grossen Preis der Jury ausgezeichnen. Kein Zweifel: Von Sindney Flanigan wird man weiterhin hören.
Madeleine Hirsiger arttv.ch
Zum Film
Die 17-jährige Autumn (Sidney Flanigan) arbeitet im ländlichen Pennsylvania als Supermarkt-Kassiererin, ihr Leben verläuft in wenig überraschenden Bahnen. Als sie bemerkt, dass sie ungewollt schwanger geworden ist, kann Autumn nicht mit der Unterstützung ihrer Eltern rechnen. Gemeinsam mit ihrer Cousine Skyler (Talia Ryder) kratzt sie ein wenig Geld zusammen und die beiden machen sich im Bus auf den Weg nach New York City. Im Gepäck haben sie nur die Adresse einer Klinik – und sonst keinen Plan.
«Never Rarely Sometimes Always» wurde beim Sundance Film Festival 2020 mit dem US Dramatic Special Jury Award ausgezeichnet. Bei der Berlinale 2020 gewann der Publikumsliebling den Silbernen Bären, Grosser Preis der Jury.