Rolf Breiner freut sich über starke Spielfilme aus der Romandie, während in seinen Augen Produktionen aus der Deutschschweiz keinen Blumentopf gewinnen. Chefredaktor Felix Schenker ist nicht der Einzige, der ein ernüchterndes Urteil über den Eröffnungsfilm fällt und Geri Krebs stellt die Festivalorganisation sowie die Dokumentarfilme in den Fokus. Darunter auch die zwei Gewinnerfilme, die sich in grösst möglicher Verschiedenheit des Themas von Migranten in der Schweiz annehmen.
Manöverkritik Solothurner Filmtage 2024
Die zehntägige Werkschau des Schweizer Films hat das Kinojahr 2024 erfolgreich eingeläutet. Was bleibt positiv in Erinnerung? Was nervt?
Manöverkritik
von Rolf Breiner, Geri Krebs, Ondine Perier und Felix Schenker
Alles wie früher?
Das drittgrösste Filmfestival der Schweiz ist hinsichtlich Publikumsaufmarsch nahezu wieder dort, wo es in den Jahren vor der Pandemie war. Mit 63 000 Besucher:innen war «Solothurn 2024» eine erfolgreiche 59. Ausgabe (2019: 64 000; 2020: 66 000). Ebenso unverändert wie früher präsentierte sich auch die Infrastruktur der Filmtage. Was sich etwa darin zeigte, dass der Sitzkomfort in den drei Hauptspielstätten Landhaus, Konzertsaal und Reithalle so hartschalig ist wie vor Jahrzehnten. Dass als einzige Neuerung in der Reithalle bei einigen wenigen Projektionen jeweils Kissen mit dem Logo von Hauptsponsor Swiss Life ausgelegt und nach der Vorführung sofort wieder eingesammelt wurden, war dabei ein groteskes Detail. Als Zuschauer:in kam man nur dann in den Genuss der weichen Sitzunterlage, wenn es sich beim gezeigten Film um einen der neun für den Prix du Public – gestiftet von Swiss Life – nominierten handelte, und auch nur dann, wenn er zum ersten Mal lief.
Wie prekär die Infrastruktur der Filmtage ist, zeigte sich einmal mehr am Freitag und Samstag, als zwischen Landhaus und dem Restaurant Kreuz zu Stosszeiten kein Durchkommen mehr war. Man fühlte sich fast wieder an die Zeit erinnert, als es noch kein elektronisches Reservierungssystem gab und man sich den möglichen Eintritt zu einem Film durch viel Warterei in der Kälte erstehen musste. Verstärkt wurde dieser Eindruck noch
durch den Umstand, dass fast sämtliche wichtigen Filmpremieren und Veranstaltungen auf die ersten drei Festivaltage gelegt wurden. Dafür hatte man schon Sonntag Nachmittag das Gefühl, die Filmtage seien am Ausklingen. Auch weil bereits am Samstagabend der Preis «Visioni» verliehen wurde, eine der drei kompetitiven Hauptsektionen. Der mit 20 000 Franken dotierte Jurypreis für ein erstes oder zweites Werk ging an Laura Cazador und Amanda Cortés für den Film AUTOUR DU FEU. Die Jury lobte den einfachen, aber originell strukturierten Film, der auf unerwartete und spannende Art ein komplexes und sehr aktuelles Thema anspreche.
Schwacher Eröffnungsfilm
Nach Carmen Jaquiers grossartigem Film FOUDRE hat man viel erwartet. Wohl zu viel! So wurde LES PARADIS DE DIANE dann auch mit Vorschusslorbeeren bedacht: Immerhin eröffnete der Film von Jan Gassman und Carmen Jaquiers nicht nur die 59. Solothurner Filmtage, sondern ist auch in der Sektion Panorama der diesjährigen Berlinale vertreten. Das dürfte wohl dem Thema geschuldet sein, denn die Ausgangslage ist spannend: Eine Mutter, die keine Beziehung zu ihrem Neugeborenen entwickeln kann. Kurz nach der Geburt flieht sie aus Zürich und setzt sich in ein spanisches Ferienmoloch ab.
Was danach folgt, verkommt leider zu einer ziemlichen Freakshow. Erzählt wird mit bestechend «bedeutungsschwangeren» Bildern, die kunstvoll wirken, im Grunde aber Nonsens sind. Die verzweifelte Suche der Protagonistin nach sich, danach ihren Körper zu spüren, wirken konstruiert und überzeichnet. Am Ende bleibt nicht viel mehr als eine geistesgestörte Frau, die uns kaum etwas über das ursprüngliche Thema des Films zu vermitteln vermag. Man hätte so viel mehr aus dieser Thematik herausholen können. Gassman und Jaqueirs haben es verschenkt. Positiv erwähnt arttv Chefredaktor Felix Schenker dafür die Filmmusik. Er ist längst nicht der Einzige, der sich vom Eröffnungsfilm der 59. Solothurner Filmtage nicht begeistert zeigt. Die Redaktionsleiterin von Click Cinema.ch, der französischsprachigen Filmplattform von arttv.ch bemängelt insbesondere, dass es dem Film trotz schönen und spannungsvollen Bildern nicht gelingt, dass man für die Hauptprotagonistin Empathie empfindet. Geri Krebs sieht ein grundlegendes Problem im Film. Das Drehbuch von LES PARADIS DE DIANE sei absurd. Es zeige sich einmal mehr, dass es in der Schweiz an guten Drehbuchautor:innen mangelt. Visuell mache der Film aber einiges her und die Newcomerin Dorothee de Koon sei schlicht eine Wucht.
Eine Frage der Existenz
Solothurn, das heisst Filme zuhauf. Die traditionelle Schweizer Werkschau ist beliebt bei Jung und Alt, so waren beachtenswert viele Vorstellungen in diesem Jahr ausverkauft. Anzumerken ist, dass das Reservierungssystem (mit dem App sind Sie dabei!) besser funktionierte als beispielsweise in Locarno. Insgesamt 23 Weltpremieren und 13 Schweizer Premieren standen auf dem Programm. Aufgefallen waren – wie gewohnt – ausgezeichnete Dokumentarfilme und vor allem starke Spielfilme aus dem Welschland. Der Deutschschweizer Spielfilm hinterliess bei Rolf Breiner nicht zum ersten Mal einen eher schwachen Eindruck. Nur wenige stachen hervor und zeigten internationales Potenzial. Bodenständig, heimisch, regional verankert – das kann auch Qualität haben, doch ausserhalb der Schweiz ist damit kein Blumentopf, sind keine Palmen und auch kein Bär zu gewinnen.
Auffallend stachen im Spielfilmbereich Produktionen aus der Westschweiz hervor. RIVIÈRE beispielsweise, eine herbe Eishockey-Romanze um zwei junge Frauen von Sebastian Seidler oder LAISSEZ-MOI vom Genfer Maxime Rappaz, ein Drama um eine alleinerziehende Mutter zwischen Verantwortung, Sehnsucht und Befriedigung. Der Film ist wohlverdient für den Schweizer Filmpreis 2024 in der Kategorie Bester Spielfilm nominiert. Auch Nadège de Benoit-Luthys Emanzipationsgeschichte PAULINE GRANDEUR NATURE hat Kinoqualitäten. Die alleinerziehende Pauline versucht alles unter einen Hut zu bringen, ihre Kinder und ihre Karriere als Landschaftsgärtnerin. Sie stösst an ihre Grenzen. Die schweizerische-belgische Koproduktion besticht durch Alltagsrealismus. «Pauline lebensgross» ist eine sympathische «grüne» Romanze über eine Frau, gespielt von Déborah François, die ihren Platz in einer Männerwelt erkämpft.
Der absolut bester Spielfilme war für Rolf Breiner BISONS von Pierre Monnard, sechsmal für den Schweizer Filmpreis «Quartz» nominiert, aber in Solothurn ganz ohne Prämierung. Monnard hat seine Regieklasse bereits in PLATZSPITZBABY oder in der TV-Serie WILDER bewiesen. Zwei sehr unterschiedliche Brüder kämpfen in BISONS um den verschuldeten elterlichen Bauernhof im Welschland. Steve hat das Zeug, als Schwinger gross herauszukommen. Doch mit Kränzen und Muni kommt man nicht aus der Schuldenfalle. So lässt er sich von seinem zwielichtigen Bruder Joël, der drei Jahre im Knast abgesessen hat, zu illegalen Faustkämpfen in Frankreich verleiten. Hohe Preisgelder locken, wobei Steve Kopf und Kragen riskiert. Die Hauptdarsteller Maxime Valvini als Steve, ehemals Schwinger und von Hause aus Jiu Jitsu Sportler, und Karim Barras als Joël liefern sich einen tragischen Bruderfight, auf Gedeih und Verderb. Spannendes Kino – realistisch schweizerisch. Und am Ende steht ein Bison im Nebel, Symbol für eine bessere bäurische Zukunft? Allein schon dafür war Solothurn wieder eine Filmreise wert.
Das Thema Migration gewinnt
DIE ANHÖRUNG von Lisa Gehrig ist ein so minutiös wie streng konzipiertes Reenactment über die Befragungssituation von vier Asylsuchenden, wobei die Mitwirkenden sich selber «spielen». Regisseurin Lisa Gehrig hat den Mut, das heisse Eisen Schweizer Asylpolitik anzupacken und auch die Courage der mitwirkenden abgelehnten Asylbewerber:innen sowie der Mitarbeiter des Staatssekretariats für Migration ist beeindruckend. DIE ANHÖRUNG verkörpert die wichtigste Tugend eines Dokumentarfilms in idealer Weise: Uns, dem Publikum, Einblicke in Welten zu geben, die uns sonst verschlossen blieben. Noch mutiger wäre der Film allerdings gewesen, wenn Gehrig auch die grundsätzliche Frage nach der ganzen Absurdität des gegenwärtigen Asylwesens aufgeworfen hätte: Wäre es nicht allenfalls sinnvoller, der Schweizer Staat würde zumindest einen Teil der Milliardenbeträge, die er jährlich für die Asylbürokratie ausgibt, für vermehrte Hilfe in den Herkunftsländern der Asylsuchenden und für massive personelle und bauliche Aufstockung der dortigen Schweizer Botschaften einsetzen? Am Ende des Films erfährt man, dass zwei der Asylsuchenden nach dem Rekurs «vorläufig aufgenommen» wurden, eine Person wurde abgelehnt, während eine andere noch auf ihren Entscheid wartet. Allgemein hätte man gerne etwas über die endgültigen Ablehnungsgründe gewusst. Trotzdem ist der Prix de Soleure für DIE ANHÖRUNG ein verdienter Preis.
Doch auch ein anderer Dokumentarfilm – der sich im weitesten Sinn ebenfalls dem Migrationsthema nähert – hätte ihn mindestens so sehr verdient: 2 G. Die Innensicht auf das Leben einer Handvoll Männer, die sich einst im bettelarmen Sahelland Niger ihren Lebensunterhalt als Schlepper verdienten und nun aktuell wegen eines Verbots ihrer Tätigkeit durch die nigerische Regierung als Goldsucher in der Wüste tätig sind, erfüllt die Qualität des Einblicks in nie gesehene Welten. Doch der Regisseur von 2 G, der als Sohn algerischer Eltern in Lausanne geborene Karim Sayad, hatte den Prix de Soleure schon 2018 gewonnen, damals für seinen Dokumentarfilm DES MOUTONS ET DES HOMMES. Dieser Umstand mag ein Grund gewesen sein, ihm nicht erneut mit den mit 60 000 Franken höchst dotierten Preis der Schweizer Filmwelt auszuzeichnen. Erst einmal in der Geschichte des seit 2009 existierenden Prix de Soleure hat ihn jemand zwei Mal erhalten – Fanny Bräunig, 2009 für NO MORE SMOKE SIGNALS und 2019 für IMMER UND EWIG.
Aus Feindbild wird Publikumsliebling
Was den Publikumsliebling – und mit dem entsprechenden Preis ausgezeichneten – ECHTE SCHWEIZER betrifft, so entbehrt es nicht der Ironie, dass damit ein Film in der Zuschauergunst obsiegte, der mit viel Wohlwollen eine Institution zeigt, die früher wohl für fast alle Besucher:innen der Solothurner Filmtage zum Inbegriff eines Feindbildes gehört hatte: die Schweizer Armee. Luka Popadićs Erstlingsfilm ist ein fast komödiantisch anmutendes Porträt von vier Offizieren, die alle einen Migrationshintergrund haben. Für Geri Krebs liegt wohl vor allem am umwerfenden Sinn für Selbstironie, Witz und bisweilen schwarzen Humor des Regisseurs, dass ECHTE SCHWEIZER sich so in die Köpfe und Herzen des Publikums einschmeicheln konnte. Und was den Themenkomplex von Migranten in der Schweiz betrifft, so ist die stärkste Qualität des Films, dass er mit der erfrischend unvoreingenommenen Präsentation von vier höheren Offizieren der Schweizer Armee mit Migrationshintergrund (ein Tamile, ein Tunesier und zwei Serben) dem bequemen Narrativ der Schweiz als einem rassistischen Land hämisch ins Gesicht lacht.
Guter Riecher
Zu guter Letzt sei festgehalten, dass arttv.ch und clickcinema.ch wieder einmal bewiesen haben, wie nah und aktuell sie am Schweizer Filmschaffen dran sind. Zu allen Siegerfilmen im Bereich bester Spielfilm hat arttv.ch, lange vor Bekanntgabe der Nominationen, Interviews mit Regisseur:innen, Produzent:innen oder Schauspieler:innen durchgeführt. Wir bleiben dran.