Sie ist eine junge Regisseurin, die man sich merken sollte. Die Westschweizerin mit portugiesischen Wurzeln erzählt in «L’Amour du monde» eine sensible und vielschichtige Geschichte über drei jungen Menschen, die sich für einen Sommer Halt geben. Jenna Hasses erster Langfilm wurde auf der Berlinale 2023 mit einem «Special Mention» geehrt. Im Interview erzählt sie, was die Protagonist:innen mit ihr gemeinsam haben und wieso sie kein «Lolita 2» drehen wollte.
L'AMOUR DU MONDE | Interview Jenna Hasse
«Es geht um die Sehnsucht nach etwas, das man noch gar nicht kennt, wie die erste Liebe und über Safe Spaces und neue Männlichkeit.»
Jenna Hasse (*1989, Lissabon) wuchs in der Schweiz auf und studierte Schauspiel am INSAS in Brüssel. Sie ist seitdem beim Film und am Theater als Schauspielerin wie auch als Regisseurin tätig. 2014 präsentierte sie in Cannes mit «En août» ihren ersten Kurzfilm. «L’Amour du monde» ist ihr erster Langspielfilm.
Jenna Hasse im Interview
Von Silvia Posavec
Auf den ersten Blick scheint «L’Amour du Monde» eine kleine und intime Geschichte zu erzählen, aber in Wirklichkeit berührt sie grosse Gefühle wie die Sehnsucht nach Sicherheit, Familie und Zugehörigkeit. Wie haben Sie Ihre Geschichte geschrieben?
Eigentlich ist es ein Buch: Charles Ferdinand Ramuz, ein Schweizer Schriftsteller aus der Romandie, schrieb 1925 «L’Amour du Monde». Die Geschichte handelt von der Ankunft des Kinos in einem kleinen Dorf in der Schweiz – die Bilder der Welt dringen ein, um die ruhige und strenge Kleinstadt zu verändern. Ich liebe dieses Buch, und anfangs wollte ich es adaptieren. Dann begann ich zu schreiben und merkte, dass es mich eigentlich nicht interessiert. Aber ich habe einige der Charaktere beibehalten, sodass Joël, Juliet und Margaux von dem Buch inspiriert sind.
Es ist Ihr erster Spielfilm und er spielt in der Nähe des Ortes, an dem Sie aufgewachsen sind. Sprechen Sie auch über Ihre Erfahrungen?
Ja, ich habe meine Teenagerjahre in dieser Region verbracht. Diese Erzählung ist sehr stark mit meinem Vater und meiner Schwester verknüpft, mit der Familie, die mich umgab. Aber auch mit dem Wunsch, den ich hatte, als ich jünger war. Ich wollte Autorin werden und aus der Schweiz weggehen. Es geht um die Sehnsucht nach etwas, das man noch gar nicht kennt, wie die erste Liebe.
Doch der Film handelt auch von Familien, die nicht zusammenleben. Es gibt eine Szene, in der die Hauptfigur, die Teenagerin Margaux, versucht, mit ihrer portugiesischen Grossmutter zu telefonieren. Wie sind Sie auf diese Szene gekommen?
Mein Vater kommt aus Portugal, und viele meiner Freunde haben eine doppelte Staatsbürgerschaft. Wie ich selbst, reisen sie im Sommer ins Ausland, um ihre Familien zu besuchen. Ich wurde in Portugal geboren und bin seit meinem 4. Lebensjahr in der Schweiz aufgewachsen. In der Szene geht es um die Geborgenheit, die durch die Sprache entsteht. Die Stimme am Telefon ist meine eigene Grossmutter! Ich hatte darüber nachgedacht, eine Schauspielerin zu bitten, diese Rolle einzusprechen, aber zum Glück habe ich meine Meinung geändert: Meine Oma ist perfekt! Und eigentlich, ja, geht es auch um mich. Ich hoffe, dass ich andere Menschen erreicht, die mit dieser Art von Familiensituation vertraut sind.
Ihre Hauptfigur ist Margaux, aber da gibt es auch das kleine Mädchen Juliette, das in einem Kinderheim lebt, und Joël, er ist ein junger Mann um die 30. Was sie gemeinsam haben, ist, dass sie nicht in klassischen Familienstrukturen leben. Wonach sehnen sie sich?
Wenn einem etwas weggenommen oder nicht gegeben wurde, muss man einen Weg finden, diese Lücke zu schliessen. Margaux, Juliette und Joël passen nicht in das Bild, das die Gesellschaft von ihnen erwartet. Aber was macht man, wenn es das normale Modell von Mutter, Vater und Kind nicht gibt? Ich wollte eine Geschichte darüber erzählen, wie man lernt, seine eigene Familie aufzubauen. Das Schreiben dieses Films war auch für mich eine Reise. Ich habe mich während dieser Zeit verändert, ich habe 2017 mit dem Schreiben des Drehbuchs begonnen und der Film wurde 2021 gedreht. In der Zwischenzeit habe ich in Brüssel studiert und bin nach Paris gezogen. Mit Joël erzähle ich die Geschichte von jemandem, der in seine Heimat zurückkehrt und sich dort wieder einfinden muss. Juliette ist noch ein Kind, sie kämpft mit einem schweren Verlust, durch die Begegnung mit Joël und Margaux findet sie eine Art Frieden. Und Margaux ist ein Teenager, sie hat diese enorme Neugierde fürs Leben, sie verspürt Sehnsucht. Und erst nach dieser Phase wird sie vielleicht eine romantische Affäre mit einem Jungen in ihrem Alter haben.
Die wunderbare Schauspielerin hinter Margaux ist Clarisse Moussa. Sie war die Hauptfigur in Ihrem ersten Kurzfilm «En route». Erzähl uns von der Zusammenarbeit …
Clarisse Moussa ist die Tochter einer Freundin meiner Mutter. Ich finde sie grossartig. Wir haben meinen ersten Kurzfilm 2013 gedreht, als sie erst 6 Jahre alt war. Als ich anfing, «L’Amour du Monde» zu schreiben, hatte ich ein älteres Mädchen im Sinn, also habe ich ein Casting mit 16-Jährigen gemacht. Aber ich merkte, dass sie schon zu reif waren. Die Freundschaft zu Joël wäre zu einer romantischen Geschichte geworden, und ich wollte wirklich keine «Lolita 2» drehen. Ich wollte, dass Margaux unschuldig ist. Sie ist ein 13-jähriges Mädchen, das zum ersten Mal starke Gefühle erleben darf. Es geht um eine abstrakte Idee von Begehren und Liebe, es geht eher um Projektion. Ausserdem wollte ich ein neues Modell von Männlichkeit zeigen. Joël ist ein 30-jähriger Mann, der nicht daran interessiert ist, Margaux zu verführen. In ihrer Beziehung ging es nur darum, einen sicheren Ort zu schaffen. Es gibt keine Szene, in der er die Grenze überschreitet, nicht einmal ansatzweise.
Die Charaktere in Ihren Filmen sind oft Kinder, welche Erfahrungen haben Sie bei der Arbeit mit ihnen gemacht?
Es ist nicht einfach, mit Kindern zu arbeiten, aber sie sind die besten Schauspieler:innen. Sie holen einen immer in die Realität zurück. Und das ist auch etwas, was ich am Kino mag. Man verbringt Jahre damit, sich Dinge vorzustellen, bereitet sich monatelang darauf vor, und dann fängt man eine Szene in einem einzigen Moment ein. Kinder machen das eigentlich die ganze Zeit. Um den Dreh vorzubereiten, haben wir viel Zeit miteinander verbracht. Wir sind an den See gefahren, haben gespielt, sind geschwommen, haben zusammen gegessen, einfach um auch eine kleine Familie zu werden. Aber ich muss sagen, dass Dreharbeiten nicht das wahre Leben sind und zu intensiven Reisen werden können. Ich bin mir vollkommen bewusst, dass ich mich um meine Schauspieler:innen kümmern muss, wenn sie den Drehort verlassen.
Sie sind selbst auch Schauspielerin, wie hilft Ihnen diese doppelte Erfahrung bei Ihrer Arbeit?
Meine Schauspielerfahrung hat mir sehr geholfen. In den Proben habe ich manchmal Szenen vorgespielt, um zu zeigen, wie sie etwas darstellen können. Beim Schauspielen geht es darum, Menschen zu imitieren und zu beobachten. Esin, die Juliette spielt, hat das die ganze Zeit getan. Sie schaute mich an, schaute Clarisse an und wiederholte es dann selbst. Mit Esin zu arbeiten war aber ganz anders als mit Marc (Joël) zum Beispiel. Als professioneller Tänzer und ausgebildeter Zirkusartist hatte er keine Erfahrung vor der Kamera. Er musste lernen, loszulassen, Vertrauen zu fassen und die Kamera einfach sehen zu lassen, was in seinen Augen passiert. Mark hat viel Zeit mit den Fischern am See verbracht, um ihre Gesten zu lernen. Es ist grossartig, wie die Schauspielerei einem die Möglichkeit gibt, andere Welten zu entdecken.
Wie wichtig war es für Sie, dass Ihre Figuren am Ende Frieden finden?
Ich glaube, Happy Ends sind eine schwierige Angelegenheit. Ich meine, die Zuschauer:innen sind intelligent und ich vertraue ihnen. Ich denke, was ich zum Ausdruck bringen wollte, ist: Das Leben ist hart, aber man kann sich weiterentwickeln und dazulernen – und das ist okay. Am Ende singt Margaux ein Lied für Juliet. Es ist ein portugiesisches Lied über Liebe, Zärtlichkeit und Akzeptanz. Eigentlich war das erste Ende, das ich zu Beginn des Schreibprozesses geschrieben habe. Leider musste ich es zwischenzeitlich aufgeben, da sich die beteiligten Filmkommissionen ein ‹eindeutigeres› Ende wünschten. Im Schneideraum sind wir schliesslich dazu zurückgekehrt. Ich bin wirklich froh, dass wir uns für diese Version entschieden haben.