Die schweizerisch-peruanische Regisseurin Klaudia Reynicke erzählt in ihrem zweiten Spielfilm, der beim Filmfestival von Locarno mit dem Preis der Jury ausgezeichnet wurde und in die engere Wahl für den Schweizer Beitrag zu den Oscars kam, eine vielschichtige Familiengeschichte. Im Interview spricht sie über ihre Verbindungen zu Peru, das sie mit zehn Jahren verlassen hat und was sie unter der «psychologischen Klammer», die den Moment des Wartens bezeichnet, versteht.
Interview Klaudia Reynicke-Candeloro | REINAS
«Die Familie ist ein Geschenk und zugleich eine Last. Besonders in südlichen Kulturen ist sie fast schon eine Religion.»
REINAS | SYNOPSIS
Lima, in den 90er Jahren. Während politische Unruhen das Land erschüttern, bereitet eine Mutter mit ihren Kindern die Auswanderung vor, um aus Peru zu fliehen. Doch die beiden Töchter bleiben an ihren Bindungen hängen und der abwesende Vater kehrt zurück, um den Kontakt zu den beiden Schwestern Aurora und Lucia wieder aufzunehmen.
Interview von Fanny Cheseaux, Mathilde Pralong und Thibault Ramet.
Wie ist die Idee zu Ihrer Auswanderergeschichte entstanden?
Sie kam nicht plötzlich, es waren eher Sehnsüchte, die mich zu REINAS gebracht haben. Ich hatte Lust, mich mit meinem Mutterland Peru auseinanderzusetzen. Ich bin dort geboren und aufgewachsen und lebte dort, bis ich zehn Jahre alt war. Seitdem haben sich alle meine beruflichen Pläne in Europa abgespielt. Aber ich hatte Lust, nach Peru zurückzukehren, das ich aber kaum kannte. Ich wollte nicht als Touristin reisen, sondern Beziehungen zu Peruaner:innen aufbauen. Das Kino war mein Werkzeug dafür. Mein Film bot mir die Möglichkeit, etwas zu erzählen, das ich kenne. Er handelt von einer Familie, die weggeht. Das sind Gefühle, die ich selber erlebt habe, obwohl es nicht meine Geschichte ist und wir mit meinem Co-Drehbuchautor Diego Vega, der auch Peruaner ist, Figuren erfinden mussten.
Was können Sie über die verschiedenen Charaktere erzählen?
Es war mir wichtig, die Geschichte aus verschiedenen Blickwinkeln und unterschiedlichen Generationen zu erzählen. Da ist der Teenager, Aurora, die ältere Schwester, die bleiben will. Ich denke, dass man mit vierzehn Jahren mit seinen Freunden und seinem Liebhaber zusammen sein möchte. Alles, was die jüngere Schwester Lucia will, ist bei ihrer Mutter zu sein. Und dann hat man die Mutter, eine Frau in den Vierzigern, die an ihre eigene Zukunft und die ihrer Töchter denkt. Das Ziel war wirklich, auf chorische Weise von den Schwierigkeiten zu erzählen, ein Land zu verlassen. Es gibt bereits viele Filme, die das Thema Migration behandeln, aber ich hatte keine Lust, das zu tun. Ich wollte von der psychologischen Klammer sprechen, die der Moment des Wartens ist. Man weiss, dass man gehen wird, also befindet man sich bereits in einer Gegenwart, die nahe an der Vergangenheit ist, denn alles, was man hier hat, wird in genau zwei Wochen für immer verschwinden und mein Leben wird sich verändern. Und wir haben keine Ahnung, was danach passieren wird. Es ist dieser sehr psychologische und schwer zu erklärende Moment, den wir mit REINAS zu zeigen versucht haben.
Viele Charaktere stechen in der Erzählung hervor, die beiden Schwestern natürlich, aber auch der abwesende Vater, der plötzlich zurückkehrt…
Die Schwestern waren ursprünglich als die beiden Hauptfiguren angedacht, aber am Ende des Schreibens wurde der Vater immer mehr zum Hauptprotagonisten. Ich habe versucht, ein Gleichgewicht zwischen den einzelnen Charakteren zu finden. Ich glaube, das ist mir und meinem Team gelungen, indem wir viel miteinander sprachen und beim Schneiden für einen Ausgleich sorgten.
Wie langen dauerte dieser Prozess?
Das Schreiben dauerte vier Jahre. Die beiden Schauspielerinnen mochten sich von Anfang an sehr, und die ganze Gruppe, die ganze Familie, das war ein sehr positiver und organischer Dreh.
Wie haben Sie die ambivalente Figur des Vaters im Gegensatz zur emanzipierten Figur der Mutter konstruiert?
Wir zeigen den Vater als eine unvollkommene Figur, die ziemlich viele Fehler hat. So kann man das Handeln der Mutter besser verstehen. Ihr Mann ist aber auch ein Mann, der leidet. Er hat keine Ahnung, wie man sich als Vater verhält und war bisher nicht anwesend. Er schämt sich, es gibt eine Krise, die es ihm nicht erlaubt, sich auf die richtige Weise zu entwickeln. Aber er möchte unbedingt von seinen Töchtern geliebt werden, also lügt er. Eigentlich sollte er eine zärtliche Person darstellen, mit der man sich identifizieren kann, auch wenn man diese ständig für ihre Taten verurteilt. Im Gegensatz dazu hat die Mutter alles richtig gemacht, sie ist pragmatisch und hat das Familienleben bestens organisiert. Sie ist ein aber auch ein wenig kalt.
Sind Familiengeschichten etwas, dass Sie generell im Kino bewegt?
Ja! Es ist übrigens ein wiederkehrendes Thema auch in meinen Filmen, das sowohl einfach als auch komplex ist. Ich glaube, dass jeder Mensch auf dieser Welt ein Buch über seine Erlebnisse und seine Familie schreiben könnte, und ich glaube, dass wir uns alle mit der Familie des anderen identifizieren können. Die Familie ist ein Geschenk und zugleich eine Last. Besonders in südlichen Kulturen ist sie fast schon eine Religion. Man kann sie nicht loswerden und sie ist etwas, das fest verankert ist. Familienbande sind ein sehr reiches Thema.
*Der Film spielt in den 90er Jahren in Lima während einer Zeit politischer Unruhen. Dennoch ist dies nicht der Fokus des Films – wie verknüpfen Sie den politischen Kontext mit der Intimität des Familienlebens?
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Es war nie meine Absicht, einen politischen Film zu machen: Es ist ein Film, der von einer Familie in einem sehr komplizierten Kontext handelt, nämlich in den berühmten 90er Jahren, in denen es eine Krise gab, die noch 20 Jahre andauerte. Das ist eine Realität, in die ich hineingeboren wurde und die ich erlebt habe, und die noch weitere zehn Jahre andauerte. Ich verliess das Land im Alter von zehn Jahren und für mich war es ein wesentlicher Teil, den Kontext des Landes, in dem ich aufgewachsen war, zu erzählen. Das Peru, das ich kannte, ist das Peru des Films. Denn als ich dorthin zurückkehrte, war es natürlich ein ganz anderes Land. Ich denke, dass es wichtig ist, über diese politische Zeit zu sprechen, aber ich habe mich gefragt, wie ich sie nicht zum Protagonisten des Films machen kann. Wir haben tatsächlich beschlossen, den politischen Kontext als eine Art Charakter zu setzen, ohne dass er den ganzen Raum einnimmt. Wir trafen sehr spezifische Entscheidungen, um das spezifische Gleichgewicht zu finden und den Fokus auf diese Familie zu halten, die das Thema des Films ist.
Hatten Sie am Ende der Dreharbeiten zu REINAS das Gefühl, dass es Ihnen gelungen ist, eine Verbindung zu Peru aufzubauen? Was haben Sie daraus gelernt?
Ja, weil das Kino dies ermöglicht. Dadurch, dass ich zunächst mehrere Wochen mit Casting, Location Scouting und dann drei Monate vor Ort verbracht habe und dann die Beziehungen fortsetzen konnte, weil wir uns in der Postproduktion befinden, konnte ich sowohl berufliche als auch freundschaftliche Beziehungen knüpfen. Meine Beziehung zu meinem Heimatland hat sich natürlich weiterentwickelt und verändert. Und das ist eine sehr schöne Sache. Eigentlich ist es ein schönes Geschenk, das uns Filmprojekte bringen können, denn um einen Film zu machen, braucht man viele Menschen. Für die Art von Film, die ich mache, braucht man Teams und das ermöglicht es, starke Verbindungen zu knüpfen.