Iris Kaltenbäck äussert sich im Interview dazu, warum es ihr wichtig war, eine Geschichte zu erzählen, die eine Freundschaft erschüttert und gleichzeitig eine Liebesgeschichte entstehen lässt. Was sie am Kino der 70er-Jahre fasziniert und warum sie die gesamte Mythologie und die Last, die um die Mutterschaft herum besteht, hinterfragen wollte.
Interview Iris Kaltenbäck | LE RAVISSEMENT
«Lydia ist eine Figur, die kaum ausdrückt, was sie fühlt, die die Wahrheit nicht preisgibt, aber wenn sie spricht, lügt sie.»
Iris Kaltenbäck wuchs in Frankreich auf, wo sie Jura und Philosophie studierte. Anschliessend besucht sie die Filmhochschule LA FÉMIS UND schloss mit einem Diplom als Drehbuchautorin ab. Im Jahr 2013 arbeitet sie als Assistentin des Regisseurs Declan Donnellan an einem renommierten Theater. Ihr erster Kurzfilm, LE VOL DES CIGOGNES, erschien 2015 und gewann den Preis des Brussels International Film Festival.
Mit Iris Kaltenbäck sprach Ondine Perier
Im Film geht es um Mutterschaft und um eine Lüge, die damit verbunden ist. Beruht Ihre Story auf einer wahre Begebenheit oder ist sie Ihrer Fantasie entsprungen?
Die Geschichte des Films geht ursprünglich auf einen Zeitungsartikel zurück, in dem eine junge Frau einem Mann vorgaukelt, das Kind ihrer besten Freundin sei ihr eigenes. Was mich sofort angesprochen hat, war die Idee, diese Lüge weiter zu erzählen, die eine grosse Freundschaft zwischen zwei Frauen erschüttert und gleichzeitig der Anfang einer möglichen Liebesgeschichte ist. Es gibt also eine sehr tragische und gleichzeitig eine potenziell schöne Konsequenz dieser Lüge. Von da an habe ich mich ganz der Fiktion hingegeben, mit dem starken Wunsch, daraus eine romanhafte Geschichte zu machen, ohne sich unbedingt an die Tatsachen zu halten.
Warum haben Sie sich entschieden, den Ausgang der Geschichte durch Milos’ Stimme, dem Ex-Geliebten der Hauptprotagonistin, preiszugeben?
Ich fand die Stimme von Milos aus zwei Gründen sehr wichtig. Erstens, weil ich wollte, dass es in der Geschichte eine doppelte Perspektive gibt, d. h. dass man die junge Frau wirklich Schritt für Schritt in dieser Abwärtsspirale begleitet, aber gleichzeitig auch eine leichte Distanz hat. Ich wollte die Geschichte aus meiner eigenen Perspektive betrachten, d. h. aus der Perspektive von jemandem, der versucht, eine Person anhand von Beweisstücken, Elementen aus einem Suchprozess zu identifizieren und nach und nach versucht, die Informationsfetzen zusammenzufügen, um das Porträt einer Frau zu erstellen.
Milos’ Perspektive war Ihnen also besonders wichtig?
Ja, ich fand sie sogar sehr wichtig, auch weil ich nicht wollte, dass die männliche Figur auf den betrogenen Mann reduziert wird. Ich fand es wichtig, dass er sich Gedanken über Lydia und seine Rolle in dieser Geschichte macht. Ich mochte die Idee, dass wir Lydia gleichzeitig folgen können, sie aber für uns ein Rätsel bleibt. Durch diese Stimme aus dem Off nehme ich auch an, dass ich nicht alle Antworten habe und erlaube mir, im Film Fragen zu stellen. Wir sind mit Lydia und gleichzeitig haben wir diese Stimme aus dem Off, die sich die ganze Zeit über diese Frau wundert.
Der Cast, bestehend aus Hafsia Herzi, Alexis Manenti und Nina Meurisse, ist einfach perfekt, wunderbar treffend. Hafsia Herzis zurückhaltendes Spiel bei der Darstellung einer so komplexen Figur wie Lydia ist atemberaubend. Haben Sie beim Schreiben des Drehbuchs sofort an sie gedacht?
Nein! Erst als ich mit meiner Casting-Direktorin darüber nachdachte, wer Lydia spielen sollte, kam uns Hafsia in den Sinn. Ich kannte sie natürlich aus LA GRAINE ET LE MULET und aus ihrem eigenen Film TU MÉRITES UN AMOUR. Ich bewundere sie schon lange. Hafsia ist es gewohnt, Rollen in eher naturalistischen Filmen zu spielen, sie drückt enorm viel durch Dialoge aus, sie ist sehr temperamentvoll. Für LE RAVISSEMENT habe ich sie gebeten, einen Gegenpol zu diesen Rollen zu bilden, denn Lydia ist eine Figur, die kaum ausdrückt, was sie fühlt, die die Wahrheit nicht preis gibt, aber wenn sie spricht, lügt. Es ging also darum, herauszufinden, wie man ihre Wahrheit anders als durch Dialoge ausdrücken kann.
Dem Film gelingt, dass Lydia nie als Verrückte wahrgenommen wird. Sie ist zwar von Anfang an unheimlich und geheimnisvoll, doch selbst in Szenen, in denen die Spannung sehr hoch ist, bleibt sie ruhig und beherrscht. War es Ihre Absicht, dass der Zuschauer sich voll und ganz in sie einfühlen kann?
Ja, und das ist auch Hafsia zu verdanken, die sich in die Figur der Lydia verliebt hat. Hafsia war die ganze Zeit über von ihrer Figur und in gewisser Weise auch von ihrer eigenen Lüge überzeugt. Sie hat sie ständig verteidigt! Tatsächlich hat sie mir sehr geholfen, vor der Figur nicht abzurücken und zu ihr zu stehen, koste es, was es wolle. Und tatsächlich war mein erstes Ziel, dass es uns gelingt, dieser Figur zu folgen, ohne sie zu verurteilen. Das war sehr wichtig.
In Ihrem Film werden viele Themen angesprochen, wie z. B. Veränderungen durch Mutterschaft, innige Freundschaftsbeziehungen, die Folgen der Einsamkeit usw. Welches dieser Thema lag Ihnen am meisten am Herzen
Was mir am meisten am Herzen lag, war wirklich diese Geschichte zu erzählen, die eine Freundschaft erschüttert und gleichzeitig eine Liebesgeschichte entstehen lässt. Und die Tatsache, dass die beiden Dinge untrennbar miteinander verbunden sind, weil sie durch eine Lüge zusammengehalten werden. Ich wollte auch die Mutterschaft anhand dieser beiden Frauen thematisieren, also die Geschichte einer Frau, die anfangs keinen besonderen Kinderwunsch hat, die aber sehr anhänglich wird und mütterliche Gefühle für ein Kind entwickelt. Und umgekehrt, wie eine Frau, die Mutter wird, die ein Kind geboren hat, mit den Schwierigkeiten des Wochenbetts konfrontiert wird. Salome ist eine Figur, die den angeborenen Mutterinstinkt in Frage stellt. Ich wollte also die gesamte Mythologie und die Last, die um die Mutterschaft herum besteht und die auch heute noch auf den Frauen lastet, hinterfragen.
Man spürt einen starken Einfluss der Filme aus den 70er-Jahren: Irisblende, Voice-over, Körnung des Films und etwas verschwommene Bilder. Haben Sie eine besondere Vorliebe das Kino dieser Epoche?
Auf jeden Fall hatte ich einen formalen Wunsch, mich vom naturalistischen Film und der etwas klassischen, grauen Tatsachengeschichte zu entfernen. Ich habe mich vom amerikanischen Kino der 70er-Jahre inspirieren lassen: TAXI DRIVER, in dem es eine Stimme aus dem Off gibt, und auch von einem taiwanesischen Film MILLENIUM MAMBO von Hou Hsiao-hsien. Ein filmisches Porträt einer Frau, das gleichzeitig von einer Stimme aus dem Off begleitet wird, die sich über ihr Geheimnis wundert. Dieser Film hat mich sehr inspiriert.