Acht Jahre nach dem Erfolg von MA VIE DE COURGETTE kehrt der Filmemacher und Animator mit seinem neuen Film SAUVAGES zurück. arttv.ch hat Claude Barras im Rahmen des 77. Locarno Film Festival zum Interview getroffen. Dabei spricht er über die technischen Anforderungen, die ein Animationsfilm mit sich bringt und warum ihm als Walliser Bauernjungen, das Leben der Penan nicht ganz fremd ist.
Interview Claude Barras | SAUVAGES
- Publiziert am 18. August 2024
«Ich möchte zum Nachdenken anregen, über unsere Beziehung zur Welt und die Folgen von Konsum und Modernität.»
SAUVAGES entführt die Zuschauer nach Borneo, wo das junge Mädchen Keria ein Orang-Utan-Baby aufnimmt, das aus einer Ölpalmenplantage gerettet wurde. Zusammen mit ihrem Cousin Selaï, einem Penan, der vor den Konflikten mit den Holzfirmen geflohen ist, kämpfen sie gegen die Zerstörung des uralten Waldes. Diese ökologische Fabel enthüllt Keria auch die Wahrheit über ihre eigene Herkunft.
Interview Djamila Zünd
Bei der Vorführung Ihres neuen Films: SAUVAGES auf der Piazza Grande in Locarno waren die positiven Emotionen des Publikums deutlich spürbar. Wie haben Sie sich gefühlt, nachdem Sie die Vorführung mit Ihrem Zielpublikum, Familien und Kindern, teilen durften?
Das hat mich riesig stolz gemacht und war eine enorme Befriedigung. Wirklich! Nach der Vorführung kamen viele Leute zu mir, um zu gratulieren. Auch am nächsten Morgen beim Treffen mit dem Publikum waren viele Kinder anwesend. Sie baten mich um Autogramme und ich war wirklich sehr, sehr zufrieden, denn der Film behandelt ein ziemlich schwieriges Thema, das sogar politisch engagiert ist, auch wenn es keine direkte Auseinandersetzung gibt. Er regt zum Nachdenken über unsere Beziehung zur Welt, die Folgen des Konsums und der Moderne an, auch wenn dies im Film nicht explizit gesagt wird. Der Film ist in erster Linie eine Abenteuergeschichte. Das Gleichgewicht zwischen Handlung und Botschaft war nicht leicht zu finden. Aber es scheint gut zu funktionieren. Die Kinder wie auch die Erwachsene haben mir versichert, dass sie berührt wurden aber auch die Botschaft verstanden haben. Das ist genau das, was ich mit meinem Film erreichen wollte.
Für diejenigen, die es nicht wissen: Wie werden die Charaktere Keria, Selaï und der kleine Orang-Utan Oshi technisch zum Leben erweckt?
Im Durchschnitt erstellt eine meiner Animator:innen vier Sekunden Film pro Tag. Jede Person befasst sich mit einer oder mehreren Sequenzen. Die Idee ist, dass diese ihre Sequenz wie einen eigenen Kurzfilm behandeln und alle beteiligten Marionetten animieren.
Ich stelle mir das sehr aufwändig vor.
Wenn eine Einstellung beispielsweise drei sich bewegendeFiguren enthält, kann man vielleicht gerade mal mit einem Fortschritte pro Tag von einer halben Sekunde rechnen. Bei einer Nahaufnahme einer lächelnden und blinzelnden Keria können es jedoch auch zehn Sekunden pro Tag sein. Dieser Durchschnitt ist möglich dank einer sorgfältigen Vorbereitung, orchestriert von zwei Assistentinnen, Dorine und Clémence Pun.
Wie viele Animator:innen arbeiteten an Ihrem Film gleichzeitig?
Zehn Beteiligte wechselten sich an den Sets ab, während fünf weitere Sets für den Aufbau der Kulissen, die Beleuchtung und die Vorbereitung zuständig waren. Es ist ein fliessender Prozess. Für mich bestand ein Drehtag darin, Fragen zu beantworten und Hinweise zu jeder Einstellung und jeder Sequenz für jeden Charakter zu geben.
*Wie erschaffen Sie den Rauch, die Glut oder auch die fallenden Blätter? Benutzen Sie für diese Elemente einen Anteil an CGI (computergenerierte Bilder)?
Zum Teil, ja. Diese Elemente werden aber nicht gleichzeitig mit den Charakteren animiert. Wenn wir die Figuren und das Feuer gleichzeitig animieren müssten, würde dies viel mehr Zeit in Anspruch nehmen. Normalerweise animieren wir zuerst die Figuren, dann übernehmen Spezialisten für die Animation des Rauches. Sie installieren kleine blinkende Lichter, die auf dem Bildschirm unsichtbar sind, und hantieren mit kleinen beleuchteten Papierstücken. Der Rauch wiederum wird auf einem Leuchttisch vor schwarzem Hintergrund mit kleinen Wattebauschen Bild für Bild animiert. Anschliessend werden alle diese Aufnahmen am Computer zusammengesetzt.
Bei einem durchschnittlichen Fortschritt von lediglich vier Sekunden pro Tag: Wie gehen Sie mit der Ungeduld um, die aufkommen könnte?
Meine Animator:innen könnten tatsächlich Ungeduld empfinden, aber das kommt nicht oft vor. Sie wissen, wie die Arbeit abläuft. Auch wenn sie effizient arbeiten, bleibt die Herstellung des Films ein langsamer Prozess. Man geht Schritt für Schritt vor: Die Stimmen werden aufgenommen, das Storyboard wird vorbereitet und dann werden die Marionetten hergestellt.
Die Stimmen sind zu erst?
Ja. Die Marionette stellt den Körper der Figur dar, aber die Stimme umfasst ihre Seele. Es ist die Verschmelzung von Körper und Seele, die die Figur lebendig und glaubwürdig macht. Um diese Verschmelzung zu erreichen, arbeite ich zuerst an der Seele, d. h. an den Stimmen, bevor ich mich mit den Körpern befasse. Ich schreibe gerne einfache und prägnante Dialoge und streiche im Laufe der Drehbuchversionen alles Überflüssige. Dann arbeite ich mit den Schauspieler:innen, indem ich sie mit einem Coach zusammen spielen lasse, um eine natürliche Darstellung zu erreichen. Sobald die besten Takes ausgewählt und der Tonschnitt fertiggestellt sind, geht es weiter. Jeder Schritt braucht seine Zeit, aber ich weiss von Anfang an, dass es ein langer Prozess sein wird. Das hilft mir, mich voll und ganz auf jede Phase zu konzentrieren, ohne ungeduldig zu werden, auch wenn das Projekt mehrere Jahre dauert.
Der Film entstand in Zusammenarbeit mit gemeinnützigen Partnern wie Foodwatch, dem Bruno-Manser-Fonds, Greenpeace Frankreich und Kalaweit, die sich alle für den Schutz der Biodiversität, die Bekämpfung der Entwaldung und die Förderung einer verantwortungsvollen Ernährung einsetzen. Sie haben auch sechs Wochen lang auf traditionelle Weise mit den Penan gelebt. Erzählen Sie uns von Ihren Erfahrungen. Waren Sie überrascht?
Ja, in gewisser Weise schon. Ich hatte aber eine exotischere Umgebung erwartet, in der es von Tieren nur so wimmelt. Dem war nicht ganz so.
- Wie haben Sie sich dabei gefühlt?*
Ich bin in einer Bauernfamilie im Wallis aufgewachsen, mit halbnomadischen Grosseltern, die je nach Jahreszeit das Dorf wechselten. Ich fand diese Lebensweise mit dieser Familie im Wald wieder, in der Einfachheit der täglichen Gesten: aufstehen, sich um das Geschehen um sich herum kümmern, Essen suchen und zubereiten. Der Wald selbst war für mich nicht fremd, denn ein Wald bleibt ein Wald, wie der Waldforscher Francis Hallé sagte. Die Artenvielfalt versteckt sich oft in den Bäumen, und man sieht nur wenige Tiere, es sei denn, sie werden einem bewusst gezeigt. Ich mag den Wald, also habe ich mich stets gut gefühlt.