Im Oktober 2019 kam es im Irak zu Protesten. Vorwiegend junge Menschen gingen auf die Strasse und forderten bessere Lebensbedingungen und eine gerechtere Gesellschaft ein. Maja Tschumis Dokumentarfilm begleitet zwei Protestierende in der Zeit nach dem Aufstand und zeigt, wie sie täglich ihren mutigen Kampf fortführen. Es ist der zweite lange Dokumentarfilm der Basler Regisseurin, die für ihren aktuellen Film mit dem «Prix de Soleure» 2025 ausgezeichnet wurde.
IMMORTALS
IMMORTALS | SYNOPSIS
Die willensstarke, junge Milo gibt sich als Mann aus, um sich in Bagdad freier bewegen zu können. Khalili, ein ehrgeiziger Filmemacher, entdeckt die Macht seiner Kamera als Waffe im Kampf gegen das Regime. Im Nachgang der Revolution von 2019 stehen die Gesichter, Augen und Stimmen von Milo und Khalili stellvertretend für eine irakische Jugend, die unerbittlich für eine bessere Zukunft kämpft. Der Film gibt Einblick in die Hoffnungen und zerbrochenen Träume einer neuen Generation, welche die Freiheit nie gekannt hat.
Maja Tschumi (1983) hat einen Master in Philosophie und Literatur der Universität Zürich und einen Master in Filmregie der Kunsthochschule für Medien in Köln. Sie arbeitete als Theaterautorin, bevor sie zum Film kam. In ihren Filmen, die meist in Kollaboration mit den Protagonist:innen entstehen, zeichnet sie intime Porträts, die sich zwischen innerer und äusserer Realität bewegen und dabei die Grenzen zwischen Dokumentation und Fiktion überschreiten. Ihre Filme wurden an vielen Festivals weltweit gezeigt. Der Film IMMORTALS feierte seine Weltpremiere am CPH:DOX im internationalen Wettbewerb und reist an viele bedeutende Festivals weltweit. BBC hat den Film gekauft.
Rezension
Von Doris Senn
Proteste gegen die Unterdrückung durch Regimes sind vielerorts an der Tagesordnung. Oft entstanden Graswurzelbewegungen, werden sie nicht weniger oft durch blutige Militärgewalt erstickt, ohne dass die Medien oder die Aufmerksamkeitsökonomie länger als nötig ihren Fokus darauf richten. Wer erinnert sich beispielsweise noch an die Geschehnisse im Irak 2019, die als «Oktoberrevolution» in die jüngere Geschichte des Landes eingingen? Der Aufruhr einer vorwiegend jungen Bevölkerung richtete sich gegen das Regime, die Arbeitslosigkeit, die Korruption, den Einfluss von Iran und den USA. Es gab Zehntausende Verletzte und Hunderte Tote im ganzen Land. Sie sind die «Unsterblichen» im Titel der schweizerisch-irakischen Koproduktion von Maja Tschumi.
Milo und Khalili: Zwei starke Protagonist:innen
Die Regisseurin – eben noch im Kino mit ihrem eindrücklichen Debüt ROTZLOCH (2022) über vier junge Flüchtlinge in der Schweiz – widmet ihr neues Werk ebenjenen Ereignissen. IMMORTALS gibt exemplarischen Einblick in zwei Lebensgeschichten der jungen Generation, die massgeblich an den Protesten beteiligt war. Da ist die 22-jährige Milo, die von ihrer Familie zwangseingesperrt wird. Vater, Bruder, Onkel, Clan: So geht die patriarchale Hierarchie, die ihr und damit den meisten Frauen im Irak ein selbstbestimmtes Leben verweigert. Auch unter Anwendung von brutaler Gewalt. Nach Milos Teilnahme an den Unruhen, nahm man ihr die Kleider weg, verbrannte ihre Dokumente und verwehrte ihr die Aussenwelt. In den Klamotten ihres Bruders und mit kurzen Haaren schleicht sie sich trotzdem raus und findet als «Mann» eine neue Freiheit. Khalili ist ein junger Mann, der nach Sinn und einer Zukunft für sich sucht – und sie in der Oktoberrevolution findet. Von da ab ist er mit Handy und später mit Kamera immer mitten im Geschehen. Er dokumentiert online, was ansonsten undokumentiert bleibt: die Protestierenden, ihre Forderungen, den Aufmarsch des Militärs, die Toten, die Verletzten. Ohne Rücksicht auf die eigene Unversehrtheit.
Zwischen Live-Footage und Reenactment
Nicht nur fand die Regisseurin mit Milo und Khalili zwei ausdrucksstarke Hauptfiguren, sie liess ihnen auch viel Raum bei der Mitgestaltung des Films und bezeichnet sie als Co-Autor:innen. Khalilis Live-Footage findet dabei ebenso Eingang wie Reenactments tatsächlich stattgefundener Szenen. Diese wurden zum Schutz der Beteiligten teils nachgespielt. Gleichzeitig zieht IMMORTALS mit eindringlichen Aufnahmen von Stadt und Menschen in Bann und setzt mit Ich-Erzählungen aus dem Off Schlaglichter auf das Leben der Porträtierten. Dokumentiert werden so auch anstehende Entscheidungen: etwa Milos Bemühungen um eine Ausreise oder besser Flucht und Khalilis Schwanken zwischen einem konventionellen Lebensweg – er wird heiraten – und seinem Aktivismus.
Fazit: IMMORTALS gibt mit den charismatischen Protagonist:innen Milo und Khalili pointierten Einblick in die Geschehnisse der irakischen «Oktoberrevolution» und danach. Aus einnehmender Nähe erzählt IMMORTALS die Ereignisse in einer hybriden Erzählweise, in der sich fliessend authentische Aufnahmen und Nach-Inszenierung aneinanderfügen. Der Film bespielt seit einem Jahr erfolgreich den internationalen Festival-Circuit, und wurde Anfang Jahr mit dem wichtigsten Preis der Solothurner Filmtage, dem «Prix de Soleure», ausgezeichnet.