Ein Gespräch mit Regisseur François Caillat über sein filmisches Porträt des französischen Autors Édouard Louis. Die Begegnung fand anlässlich der 55. Ausgabe von Visions du Réel statt.
ÉDOUARD LOUIS, OU LA TRANSFORMATION | François Caillat
«Ich wollte Édouard Louis einen Ort geben, wo er sich maximal entfalten und am besten ausdrücken konnte.»
François Caillat ist ein französischer Filmemacher und Regisseur von rund 20 Dokumentarfilmen und Essays für Fernsehen und Kino.
Filmauswahl François Caillat
ÉDOUARD LOUIS, OU LA TRANSFORMATION, 2022
FOUCAULT CONTRE LUI-MÊME, 2014
UNE JEUNESSE AMOUREUSE, 2013
BIENVENUE À BATAVILLE, 2008
LA QUATRIÈME GÉNÉRATION, 1997
ÉDOUARD LOUIS, OU LA TRANSFORMATION | Synopsis
Der aus einer Arbeiterfamilie stammende Édouard Louis, der zur literarischen Sensation wurde, erzählt von seiner Situation als sozialer Aufsteiger, vom Unbehagen, zu keiner Seite ganz zu gehören, aber auch von der Möglichkeit der Verwandlung. Der Filmemacher folgt ihm an die Schauplätze seiner Kindheit, wo er uns einen Einblick in eine reiche und spannende Denkweise gibt, die uns alle zur Veränderung einlädt.
Ein Interview mit François Caillat
Von Ondine Perier
Wie haben Sie Edouard Louis kennengelernt?
Ich habe Edouard kennengelernt, als ich vor zehn Jahren einen Film über Michel Foucault drehte. Damals war er ein junger Student aus Paris. Die Produktionsleiterin verriet mir, dass er in Wirklichkeit Eddy Bellegueule hiess. Das war 2014, in dem Jahr, in dem sein erstes Buch erschien.
Edouard Louis ist berühmt für seinen sozialen Aufstieg, die Überwindung von Klassengrenzen. Hat Sie dieser Aspekt seiner Persönlichkeit interessiert?
Er hat es geschafft, fünf Bücher über sich selbst, sein Umfeld, seine Familie und seine Freunde zu schreiben und dabei zu versuchen, sie zu einem universellen Thema zu machen. Diese Universalität ist auch der Grund, warum er heute auf der ganzen Welt bekannt ist. Edouard Louis hat ein echtes Talent dafür, die sozialen Codes der verschiedenen Gesellschaftsschichten zu beschreiben, sei es die der Arbeiterklasse, aus der er selbst stammt, oder die der Bourgeoisie, die er in Amiens kennenlernte. Edouard schafft es, aus Anekdoten immer sehr intelligente und kluge Aussagen zu formen: Aus einer Anekdote, die banal erscheinen mag, macht er eine Theorie. Als wir drehten, erzählte er mir zum Beispiel, welche Musik er mit einer Freundin in der Schule hörte oder was er zu Mittag ass. Nach einer Minute folgte die Theorie dazu. Das ist ziemlich faszinierend.
Amiens war der Ausgangspunkt seiner Transformation, Sie haben Ihren Film auf diesen Wendepunkt in seinem Leben ausgerichtet. Wie kam es zu dieser Entscheidung?
Ich war mir ziemlich sicher, dass sich alles in Amiens abgespielt hat. Die Transformation fand hier statt. Das war für mich ziemlich ideal: Es gab eine Einheit von Zeit und Ort, in vier Jahren, in einer kleinen Provinzstadt. Dieser Fokus ermöglicht es, besser zu verstehen, was das bedeutet.
Amiens erscheint in der Tat als ein Sprungbrett auf seinem Weg zur Emanzipation.
Ja, aber letztlich war es nur ein Sprungbrett in die Grossstadt Paris. Und ich würde sagen, dass Paris letztendlich auch nur eine Stufe auf seinem Weg war, denn heute ist er in der ganzen Welt unterwegs: in Asien, Australien, Südamerika. Es ist, als wäre Paris zu klein geworden, denn er trifft auf der ganzen Welt Menschen, die sich für seine Arbeit interessieren. Er findet überall Resonanz und Interesse an seinem Werk.
Wie gelingt es Ihnen, ein Klima zu schaffen, in dem man sich anvertrauen kann?
Ich habe ein freundschaftliches und recht einfaches Verhältnis zu ihm, das dem zweier Personen entspricht, die auf theoretischer Basis zusammenarbeiten. Als wir uns kennenlernten, war er noch nicht berühmt, was uns vielleicht belastet hätte. Und als ich ihm diesen Film über ihn vorschlug, stimmte er zu und erklärte mir, dass dies auf unsere Beziehung zurückzuführen sei, die sich anfangs entwickelt hatte. Dies ermöglichte auch seine Herzlichkeit, die im Film zum Ausdruck kommt, und dass er sich völlig gehen liess. Er kontrollierte nichts, er hatte nicht einmal das Drehbuch gelesen. Mir lag es am Herzen, ihm ein Ort zu geben, wo er sich maximal entfalten und ausdrücken konnte.
Wie lange dauerten die Dreharbeiten?
Nur vier Tage! Es war wie ein ununterbrochenes Gespräch im Fluss. Man spürt viele Emotionen von ihm, wenn er über seine Kindheit und natürlich seine Eltern spricht.
War es schwierig, seine Aussagen genauer zu erfassen?
Wenn ich Dokumentarfilme mache, geht es darum, das Eis zu brechen. Es geht darum, eine Vertrauensbeziehung aufzubauen, in der alles passieren kann, auch Überraschungen und Emotionen. Um dies zu erreichen, arbeite ich mit einem kleinen Team, das Nähe mit dem anderen ermöglicht. Es gibt nicht wirklich Fragen und Antworten. Ich habe während der Dreharbeiten viel geredet, vielleicht sogar mehr als Edouard! Beim Schneiden wurde natürlich alles entfernt.
Können Sie uns abschliessend ein paar Worte über Ihr nächstes Projekt sagen?
Ich bin in Lothringen geboren, dem Stützpfeiler der französischen “trente glorieuses”, wo die Wirtschaftsleistung auf Stahl und Eisen basierte, an der Grenze zu Deutschland und Luxemburg. Es ist eine Region, die sich völlig verändert hat, seit ich dort aufgewachsen bin. Ich arbeite mit einer Inszenierung, die zum Teil Oper ist, ich habe einen Komponisten eine Oper schreiben lassen. Der gesamte historische Teil des Films wird gesungen. Dies war bereits bei meinem Film über die Bata-Fabriken “Bienvenue à Bataville” der Fall, der von ehemaligen BATA-Mitarbeitern gesungen wurde. Die Einführung des Imaginären in das Reale hat meiner Meinung nach einen starken erzählerischen Wert.