Wenn man von einer Komödie spricht, dann heisst das ja nicht, dass man den ganzen Film hindurch lachen muss. Diese heikle Balance gelingt Regisseurin Sabine Boss in ihrem neusten Spielfilm. Denn hier geht es auch um eine gequälte Seele, die jedoch im Verlauf der Geschichte – in der gelacht, geweint, getröstet, geliebt und gestritten wird – Linderung erfährt. Und das ist berührend.
Die Nachbarn von oben
Sabine Boss gelingt ein tiefgründiges und sehr unterhaltsames Psychogramm einer ausgeleierten Beziehung.
Die Nachbarn von oben | Synopsis
Der wilde Sex des benachbarten Paares lässt bei Anna und Thomas die Bilder an den Wänden wackeln, während ihre Beziehung mittlerweile so prickelnd wie eine abgestandene Cola ist. Als Anna die Nachbarn zum Apéro einlädt und diese ein überraschend pikantes Angebot unterbreiten, überschlagen sich die Ereignisse …
Rezension
Von Madeleine Hirsiger
Es herrscht – wie so oft – dicke Luft bei Anna und Thomas in ihrer geräumigen Altbauwohnung. Sie erwarten die Nachbarn von oben zu einem Apéro. Thomas, dem Lehrer, passt das überhaupt nicht. «Wieso hast du mich nicht zuerst gefragt?», «Weil du sowieso Nein gesagt hättest!». Sie hat noch schnell einen Teppich fürs Wohnzimmer gekauft, was Thomas zusätzlich in die Nase sticht. Dieser hat ein ärgerliches Problem mit denen von oben: Er findet es gar nicht lustig, wenn man das Bett knarren und das Paar beim Sex stöhnen hört. Und wenn die jetzt schon mal kommen, dann will er ihnen die Leviten lesen, was Anna wiederum gerne vermeiden will. Sie hat sich für den Anlass ziemlich sexy angezogen und sucht verzweifelt ihre High Heels.
Ein freizügiges Angebot
Und dann klingelt es: «Hoi», sagen sich die beiden Paare gegenseitig gespielt fröhlich. Die zwei Flaschen Sekt von oben werden überreicht, Anna bringt die Häppchen und nach etwas Smalltalk will Thomas schnell zur Sache kommen. Da kommen ihm von oben zuvor: sie wollten sich mal entschuldigen für den Lärm, den sie beim Sex machen würden. Sie seien halt auch mal zu viert oder noch mehr. Konsternation macht sich vor allem bei Thomas breit. Was hat er da noch zu sagen? Das eine Wort ergibt das andere und es läuft schliesslich drauf hinaus, dass die zwei von oben – er Feuerwehrkommandant, sie Psychologin – nichts dagegen hätten, es auch mal mit Anna und Thomas zu versuchen. Ob sie denn nicht Lust hätten?
Eskalation überfällig
Für Thomas ist das zu viel. Er driftet ins Sarkastische ab, kann überhaupt nicht mehr an einer normalen Konversation teilnehmen, rastet aus, wird laut und macht sich über die Psychologin lustig. Die Situation eskaliert und allmählich begreifen wir Thomas’ tiefe Verzweiflung. Offenbar war er mal ein begabter Pianist, nun langt er auf seinem Flügel im Wohnzimmer keine Taste mehr an. Diese Eskalation, von allen Protagonist:innen eindringlich gespielt, haucht der verknorzten, ausgetrockneten, lieblosen Beziehung zwischen Anna und Thomas wieder etwas Leben ein. Langsam zeichnet sich ab, dass Annas dringendes Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit doch noch gestillt wird.
Neue Schweizer Komödien
Der Regisseurin Sabine Boss ist ein tiefgründiges, fast leichtfüssiges Psychogramm einer ausgeleierten Beziehung geglückt – mit vier wunderbaren Schweizer Schauspielern. «Die Nachbarn von oben» basiert auf dem erfolgreichen spanischen Film «Sentimental» von 2020, doch wurde die theaterähnliche Inszenierung von Drehbuchautor Alexander Seibt neu interpretiert. Kameramann Pietro Zuercher liefert die in intensiven Farben gehaltenen Bilder dazu. Und man kann nur froh sein, wurde die Erfolgsregisseurin Sabine Boss («Der Goalie bin ig», 2014) als Studienleiterin «Film» an der Zürcher Hochschule für Kunst für ihr neues Kinoprojekt freigestellt.
Fazit: «Die Nachbarn von oben» behandelt ein Muster zwischen Paaren, das wohl fast allen bekannt sein dürfte. Mit «Die goldenen Jahre» und «Die Nachbarn von oben» beweist die einheimische Filmszene überzeugend – und hier sind zwei Frauen am Werk –, wie auf Mundart gescheite Komödien erarbeitet werden können, die hoffentlich die Kinosäle wieder füllen.