Seit 1969 präsentiert Visions du Réel kühne und einzigartige Filme, die von vergangenen, gegenwärtigen oder zukünftigen Wirklichkeiten berichten. Zehn Tage lang ist Nyon Treffpunkt für Generationen von Filmschaffenden und Künstler:innen aus der ganzen Welt. Die meisten Filme werden als Weltpremiere gezeigt. arttv.ch hat die künstlerische Leiterin des Festivals, Emilie Bujès, zum Gespräch getroffen. Dabei verrät sie unter anderem, welche Filme besonders für ein junges Publikum interessant sind.
«Die dominierenden Themen in diesem Jahr bleiben Familie, Migration und Konflikte»
- Publiziert am 2. April 2025
Emilie Bujès, seit acht Jahren an der Spitze von Visions du Réel, über die Highlights und Ambitionen der aktuellen Festivalausgabe.
Wie fühlen Sie sich drei Tage vor der Eröffnung?
Gut! Wir befinden uns in der Endphase der Vorbereitungen und verspüren eine grosse Aufregung. Diese Ausgabe, an der wir monatelang gearbeitet haben, bietet ein reichhaltiges und abwechslungsreiches Programm, das sein Publikum finden dürfte!
War die Wahl von BLAME von Christian Freis als Eröffnungsfilm der 56. Ausgabe eine gemeinsame Entscheidung?
Ja, wir haben den Film gemeinsam ausgewählt. Diese Entscheidung ist Teil unseres Bestrebens, ein breites Publikum anzuziehen, darunter auch Zuschauer:innen, die nur wegen dieser Art von populären Filmen kommen.
Im letzten Jahr gab es einen Besucherrekord mit über 50 000 Eintritten. Rechnen Sie auch in diesem Jahr mit einen Ansturm dieser Grössenordnung?
Wir möchten diesen Rekord nochmals übertreffen – das ist eines unserer Ziele für dieses Geschäftsjahr. Wobei uns bewusst ist, dass wir von den Launen des Wetters abhängig sind.
Wer ist Ihre Zielgruppe?
Wir haben den Ehrgeiz, mit einem abwechslungsreichen Programm und einer erneuerten grafischen Identität ein breites Publikum, insbesondere junge Menschen, anzuziehen. Aber wir möchten auch unser treues Publikum erreichen, das seit Jahren kommt und halt etwas älter ist. Die Anzahl der Filme macht es uns leicht, ein vielfältiges Publikum anzusprechen.
Welche der Film sprechen besondere ein jüngeres Publikum an?
Dazu gehören unter anderem LA VRAIE VIE, eine Serie, die in der Art eines Videospiels gedreht wurde, NIÑXS, ein ziemlich «poppiger» Dokumentarfilm über ein Trans-Mädchen in Mexiko, oder 67 MILLISECONDES, der anhand von Aufnahmen von Überwachungskameras die Legitimität von Polizeieinsätzen in Frankreich hinterfragt. Auch die Sektion Opening Scenes, die den Erstlingskurzfilmen gewidmet ist, bleibt eine Fundgrube für Entdeckungen, ebenso wie der Internationale Wettbewerb für Mittel- und Kurzfilme oder der Wettbewerb Burning Lights.
Gibt es bestimmte Lebensbereiche, die sich aus dem Programm besonders herauskristallisieren?
Die dominierenden Themen in diesem Jahr bleiben Familie, Migration und Konflikte. Es ist auch ein verstärktes Interesse an der Wissenschaft und dem Thema Natur zu beobachten, das auf sinnliche, sensorische Weise angegangen wird. Viele Filme verankern sich stark in Landschaften oder beobachten sogar Bäume und ihre Beschaffenheit. Das zeugt von einem wachsenden Umweltbewusstsein.
Welchen Einfluss hat das Festival Visions du Réel auf den weiteren Vertrieb ausgezeichneter Filme?
Das Visions du Réel leisten vor allem einen wichtigen Beitrag dazu, dass Filme wie THE LANDSCAPE AND THE FURY ins Rampenlicht gerückt werden. Der Film wrude im letzten Jahr ausgezeichnet und kommt diesen Mai in der Schweiz in die Kinos. Eine solche Auszeichnung erleichtert es dem Film, auf Festivals und in den Medien aufzutreten, und trägt zu seiner internationalen Ausstrahlung bei. In diesem Fall handelt es sich um einen grossartigen Film, an dessen Entwicklung wir gerne beteiligt waren.
Ausserdem haben wir ein Programm mit dem Titel Visions du Réel on Tour, dessen Ziel es ist, die Kinostarts von Filmen zu begleiten, die am Festival zu sehen waren. Zudem zeigen wir das ganze Jahr Filme aus dem Programm im Cinémas Capitole in Nyon.
Wie stark ist die Deutschschweiz am Festival beteiligt? Gibt es Besucherzahlen zum deutschsprachigen Publikum?
Ja, sie lag im letzten Jahr bei 11 Prozent. Die Medienberichterstattung in der Deutschschweiz liegt bei etwa 200 Inhalten gegenüber 400 in der Romandie, was nicht wenig ist! Die Bedeutung der Deutschschweiz wird dieses Jahr mit der Eröffnung des Festivals durch einen schweizerdeutschen Film unterstrichen. Die Bedeutung der Deutschschweiz wird in diesem Jahr mit der Eröffnung des Festivals durch einen schweizerdeutschen Film unterstrichen. Diese starke Geste soll mehr deutschsprachige Presse und Zuschauer anziehen und die starke Verankerung des Festivals in der Schweiz, nicht nur in der Romandie, zeigen. Das Online-Angebot erweitert die Möglichkeiten, die Filme aus der Ferne anzusehen.
Haben Sie auch an die Zugänglichkeit für das Deutschschweizer Publikum in Bezug auf die Logistik gedacht?
Durchaus, es wurden Anpassungen vorgenommen, wie etwa die Verlegung der Masterclasses auf den frühen Nachmittag, damit die Zuschauer aus der Deutschschweiz mit dem Zug anreisen und im Laufe des Tages wieder abreisen können. Ausserdem gibt es das Programm VdR at School. Es richtet sich an Lehrpersonen mit auf Deutsch untertitelten Filmen und angepassten pädagogischen Arbeitsblättern.
Gibt es unter den 57 Ländern, die in diesem Jahr vertreten sind, Gebiete, in denen es schwieriger ist, Filmrechte zu erhalten?
Das ist weniger ein Problem der Rechte als vielmehr ein Problem der Produktion. In einigen Ländern ist es schwieriger, Filme zu produzieren, was ihre Präsenz auf dem Festival einschränkt. Beispielsweise sind in diesem Jahr ein vietnamesischer Film und ein Film aus Myanmar im Programm, was seltener vorkommt. Umgekehrt ist es manchmal komplizierter, Weltpremieren von beispielsweise amerikanischen Filmen zu bekommen, weil die Festivals miteinander konkurrieren.
Sie stehen seit acht Jahren an der Spitze des Festivals. Was waren die wichtigsten Entwicklungen von Visions du Réel in dieser Zeit?
Es hat sich viel verändert, vor allem die Ausweitung des digitalen Bereichs, der ein jüngeres Publikum anzieht und die visuelle Kommunikation des Festivals verbessert hat. Auch die Öffnung für ein junges Publikum wurde verstärkt, und die Gäste sind nun internationaler und hybrid in ihrer Praxis zwischen Spiel- und Dokumentarfilm. Inklusivität ist ebenfalls ein zentraler Punkt, mit audio-deskriptiven Vorführungen, Masterclasses, die in Gebärdensprache übersetzt werden, und einem besonderen Augenmerk auf die Zugänglichkeit der Inhalte für alle Zuschauer:innen.
Gibt es dieses Jahr auch neue Angebote?
Ja, insbesondere eine Erhöhung der Anzahl der Workshops für Kinder, die sich beispielsweise mit bewegten Bildern und Ton beschäftigen. Wir haben die kürzlich eingeführte Initiative zur Beantragung einer niedrigeren Altersfreigabe für bestimmte Filme fortgesetzt und noch ausgeweitet, um Familien die Möglichkeit zu geben, diese Filme gemeinsam zu entdecken. Denn ein Film, der auf einem Festival als Weltpremiere gezeigt wird, erhält automatisch das gesetzliche Mindestalter von 16 Jahren. Wir treffen also eine Auswahl von Filmen, die wir für ein jüngeres Publikum für geeignet halten, und schicken sie an die Kommission, die für die Zuweisung des Alters zuständig ist.
Und wurden in Bezug auf die Infrastruktur Verbesserungen vorgenommen?
Ja, jedes Jahr werden Änderungen vorgenommen, um die Vorführbedingungen zu verbessern. In diesem Jahr profitiert der grosse Saal des Festivals von neuen Bänken und einer besseren Neigung, die mehr Komfort und eine bessere Lesbarkeit der Untertitel bieten. Bereits im letzten Jahr war eine neue Projektionskiste hinzugefügt worden, um das Seherlebnis in einem anderen Saal zu optimieren.
Emilie Bujès, alles Gute für die 56. Ausgabe!
Vielen Dank und wir freuen uns darauf, Sie in Nyon begrüssen zu dürfen!