Auch unter Kritiker:innen ist man sich nicht immer einig, welche Filme gelungen sind und welche nicht zu den Sternstunden der Filmgeschichte gehören. Die einen sind eingenommen von der Sinnlichkeit estnischer Frauensaunas, andere abgestossen von Polańskis proletenhaftem Humor und wieder andere doppelt begeistert von Wim Wenders meisterhaften Filmkunstwerken. Hier unsere, bei der grossen Vielzahl an Festivalfilmen logischerweise unvollständigen, Liste der Tops und Flops …
Das waren die Top und Flops des Zurich Film Festival 2023
- Publiziert am 9. Oktober 2023
Welche der beinahe 150 Festivalbeiträge haben unsere Filmjournalist:innen begeistert, welche geärgert?
DORIS SENN
👍 SMOKE SAUNA SISTERHOOD von Anna Hints (Estland, Frankreich und Island, Dokumentarfilm)
Die Rauchsauna in Estland gehört zum Unesco-Weltkulturerbe. Anna Hints hat mit «SMOKE SAUNA SISTERHOOD» einen atemberaubend schönen und äusserst berührenden Film zu Frauen, Körperlichkeit und Seelenverwandschaft gemacht. Das Langfilmdebüt der estnischen Regisseurin ist ein Meisterwerk an synästhetischer Bildsprache und zeigt eine kleine Gemeinschaft in kraftvoll-spiritueller Verbundenheit. Ein Erlebnis!
👎 PRISCILLA von Sofia Coppola (USA, Biopic)
Lost in Langeweile: In PRISCILLA von Sofia Coppola umwirbt ein uncharismatischer Elvis (Jacob Elordi) über eine gefühlte Ewigkeit die minderjährige Priscilla (eine blass aufspielende Cailee Spaeny). Bevor Elvis «the little one» dann doch noch heiratet und schwängert. Sofia Coppola zelebriert spannungslos Priscillas prüde Parallelwelt zu Elvis glamourösem Star-Leben. Und das ohne einen einzigen Elvis-Song!
GERI KREBS
👍 CERRAR LOS OJOS von Víctor Erice (Spanien und Argentinien, Drama)
Ein alter Filmregisseur, der keine Filme mehr dreht, sucht einen vor dreissig Jahren verschollenen Schauspieler, der in seinem nie fertiggestellten Film als Hauptdarsteller wirkte. Mit diesem simplen wie raffiniert-verschachtelten Plot und einer Bildsprache, die in ihrer Schönheit ihresgleichen sucht, beweist der 83-jährige Victor Erice, dass auch ultralangsames Altherrenkino ans Herz gehen kann. Sein Drama um Erinnerung, Filmemachen und den unbarmherzigen Lauf der Zeit erzeugt grösst mögliche Spannung – auch wenn er fast drei Stunden dauert. Seit dreissig Jahren hat Victor Erice keinen Langfilm mehr realisiert und genau ein halbes Jahrhundert ist es her, seit er mit EL ESPIRITU DE LA COLMENA (Der Geist aus dem Bienenkorb) Filmgeschichte geschrieben hat – und dass es kein Nachteil sein muss, wenn man sich für einen Film sehr viel Zeit lässt, das merkt man CERRAR LOS OJOS in jeder einzelnen Einstellung an.
👎 STELLA. EIN LEBEN von Kilian Riedhof (Deutschland, Drama)
Der von der Festivalleitung gross als Highlight in der Sektion «Gala Premieren» angepriesene Film erwies sich als grosses Ärgernis. Moralisch fragwürdigen basiert die Geschichte auf wahren Begebenheiten: Eine Jüdin namens Stella wird im Berlin des Jahres 1943 zwecks Sicherung des eigenen Überlebens zur Kollaborateurin der Gestapo. Und als sei das nicht schon schwer verdaulich genug, werden die Dialoge konsequent genuschelt, sodass man sie ohne die englischen Untertitel nicht verstanden hätte. Riedhofs Film ist fahrig erzählt und dazu in einer Art und Weise montiert, dass man glauben könnte, hier sei keine Cutterin, sondern der Zufall am Werk gewesen. Seine Hochglanzästhetik passt wie die Faust aufs Auge zum Thema und am Ende steht – kein Witz – der Satz: «Stella Goldschlag war Opfer und Täterin». Ach so, da wären wir selber nicht draufgekommen.
SILVIA POSAVEC
👍 HOLLYWOODGATE von Ibrahim Nash’at (Deutschland, Dokumentarfilm)
Während alle Welt ohnmächtig zuschaute, wie die Lage in Afghanistan mit dem Abzug der amerikanischen Truppen ausser Kontrolle geriet, handelte Regisseur Ibrahim Nash’at geistesgegenwärtig einen Deal mit den Taliban aus. In HOLLYWOODGATE folgt er den neuen Machthabern ein Jahr auf Schritt und Tritt, sie entschieden, was er filmen durfte. Trotz Zensur und bescheidener filmischer Mittel gelingt es ihm, seine Protagonisten so zu zeigen, dass sie sich selbst entblössen. Ein unerschrockener, überraschend unterhaltsamer und ernüchternder Blick auf die Männer, die hinter dem Wiedererstarken der Taliban stehen. Und gewissermassen eine Fortsetzung des Dokumentarfilms RETROGRADE von Matthew Heineman, der 2022 am ZFF zu sehen war.
👎 THE PALACE von Roman Polański (Italien, Komödie)
Eine Silvesterfeier unter Gutbetuchten: Roman Polańskis Komödie wurde im gleichnamigen Luxushotel in Gstaad gedreht, ist aber so dermassen plump und peinlich umgesetzt, dass man sogar müde wird, sich über die Dummheit und Dekadenz «der Reichen» zu mokieren. Es ist sowieso fraglich, was so ein Film auf Festivals zu suchen hat, Premiere feierte er in Venedig (wo nach der Pressevorführung Buh-Rufe zu hören waren). Aber vielleicht sollte man dankbar sein, denn Polański liefert nun also auch «künstlerisch» einen Grund, ihn endgültig zu canceln.
ROLF BREINER
👍 ZWEI MAL WIM WENDERS (Japan, Drama und Deutschland, Dokumentarfilm)
Er ist und bleibt ein Meister des Kinos, dem immer wieder einzigartige Kinokunststücke gelingen. Wim Wenders wartet am ZFF 2023 mit zwei Filmen auf. PERFECT DAYS beschreibt den Alltag eines Mannes im Dienst der Tokyo Toilet. In der Millionenstadt Tokio findet Hirayama als Toilettenreiniger seinen Frieden und manchmal auch ein bisschen Liebe. Ein wunderbares stilles Stadtpoem. Dem deutschen Künstler Anselm Kiefer hat Wenders zweieinhalb Filmjahre gewidmet. Mit ANSELM (3 D) ist ihm ein einzigartiges Kunst- und Künstlerporträt gelungen. Ein Meisterwerk über einen Meister der bildenden Kunst.
👎 HOW TO HAVE SEX von Molly Manning Walker (UK, Drama)
Es gibt gute und schlechte Filme an Filmfestivals. Dem Fass der Boden ausschlug am ZFF das üble Partytreiben in HOW TO HAVE SEX von Molly Manning Walker. Der Titel mag manche Besucher:innen anlocken, doch diese Orgie auf Kreta ist weder sexy noch irgendwie sinnlich oder sinnvoll, wenn drei junge Frauen die Sau rauslassen, unbedingt defloriert werden wollen und enttäuscht werden. Ein Trip zwischen Alkohol, Drogen und Kotzen – zum Kotzen.
MADELEINE HIRSIGER
👍 THE ZONE OF INTEREST von Jonathan Glazer (USA, UK und Polen, Drama)
Schon in Cannes hoch ausgezeichnet, führt uns Regisseur Jonathan Glazer mit seinem Film in die heile Welt des NS-Kommandanten Rudolf Höss und seiner Familie, die – nur durch eine hohe Mauer getrennt – neben dem Konzentrationslager Auschwitz wohnt. Alles ist perfekt: die Dienstmädchen (aus dem Lager), die Gesellschaft Gleichgesinnter, der wunderschöne Garten mit blühenden Rosen, die schönen Kleider (ein Pelzmantel von »drüben» wird anprobiert) und vollen Tellern. Glazer bleibt auf dieser Seite und baut dadurch eine unheimliche Spannung auf. Das Konzentrationslager findet nur auf der Tonspur statt: Schreie, Schüsse, Befehle und die rauchenden Kamine. Keine leichte Kost.
👎 HOW TO HAVE SEX in THE PALACE von Molly Manning Walker und Roman Polański (UK, Drama und Italien, Komödie)
Molly Manning Walker erprobt die Sauffestigkeit und den nächtlichen Durchhaltewille von drei Teenagerinnen auf einer griechischen Ferieninsel – ohne jeglichen Mehrwert. Und Roman Polanski zieht in THE PALACE die unterste Schublade: In einer völlig überdrehten, pseudo-sarkastischen Inszenierung einer Silvesterparty im Nobelhotel in Gstaad langweilt es uns bis an die Schmerzgrenze.
KATHRIN HALTER
👍 POOR THINGS von Yorgos Lanthimos (USA, Irland und GB, Science Fiction)
Yorgos Lanthimos hat mit dieser feministischen Frankenstein-Variation (nach dem gleichnamigen Roman von Alasdair Gray) eine Frauenfigur zum Leben erweckt, die so fasziniert wie verstört: Bella Baxter ist ein – schnell lernendes – Kleinkind im Körper einer erwachsenen Frau, das ganz nach dem kindlichen Lustprinzip seinen Körper und schliesslich die Welt erkundet. Emma Stone verkörpert dieses aufsässige, sexsüchtige, intelligente und rotzfreche Wesen als eine Mischung aus Punk und Prinzessin: Verblüffend, fesselnd, grossartig.
👎 KEINEN
Anscheinend hatte ich mit meiner Filmauswahl einfach Glück. Es gab keinen Film, den ich mir am ZFF angesehen habe, und für den ich meinen Daumen nach unten drehen müsste.
FELIX SCHENKER
👍 NORMALE LOVE von Yannick Mosimann (Schweiz, Dokumentarfilm)
Eine junge Frau und ein junger Mann beschliessen, für ein Jahr eine Beziehung einzugehen, die auf 14 Vertragsklauseln basiert. So sind die beiden sich anfänglich unbekannten Personen beispielsweise verpflichtet, vier Mal im Monat Sex zu haben. Immer dabei, wenn auch mit ziemlich eigenwilliger Bildsprache, eine Kamera. Ein vergnügliches und spannendes Filmexperiment, zu schräg, als dass es den Weg ins offizielle Kinoprogramm wohl jemals finden wird. Aber gerade deswegen braucht es Filmfestivals.
👎 EARLY BIRD von Michael Steiner (Schweiz, Thriller)
Was um alles in der Welt hat Festivaldirektor Christian Jungen dazu gebracht, diesen Film 800 Gästen bei der Eröffnung des FRAME aufzuzwingen? EARLY BIRD fährt so ziemlich alles an die Wand, was einen sehenswerten Film ausmacht. Dabei beginnt Steiners Thriller echt gut, leitet dann allerdings schnell seinen Sturzflug ein. Umso mehr Blut spritzt, desto blutleerer wird die Story. Manche mögen das und so bleibt zu hoffen, dass der Film im Kino trotzdem funktioniert. Denn es gibt auch ein paar gute Gründe, sich den ansonsten ziemlich missratenen Film anzuschauen: Die 1996 im Baselbiet geborene Hauptdarstellerin Silvana Synovia ist ein erfrischend neues Gesicht im Schweizer Film.
ONDINE PERIER
👍 LE RAVISSEMENT von Iris Kaltenbach (Frankreich, Drama)
Der erste Spielfilm der französischen Filmemacherin Iris Kaltenbäch beeindruckt durch seine narrative und formal meisterhafte Sprache. Zwar werden viele Themen angesprochen – Mutterschaft, Freundschaft, Liebesbeziehungen -, doch keines wird nur oberflächlich behandelt. Die Spannung und die Suspense, die den Film durchziehen, bleiben bis am Ende erhalten, ohne jemals nachzulassen. Man ist sofort gefesselt von dieser Geschichte und ihrer Protagonistin, die meisterhaft von Hafsia Herzi dargestellt wird. Die Schauspielerin verkörpert diese komplexe junge Frau, die abwechselnd beunruhigend und berührend ist, auf bewundernswerte Weise. Am Ende des Film bleibt Erschütterung aber auch Begeisterung.
Ein Interview mit der Regisseurin finden Sie >>HIER
👎 POOR THINGS von Yorgos Lanthimos (USA, Irland und GB, Science Fiction)
Der griechische Regisseur Yorgos Lanthimos (THE FAVOURITE) lässt die Zuschauer:innen in eine gotische Welt eintauchen, die von geschundenen und scheiternden Charakteren bevölkert ist. Die wilde und nymphomanische Heldin Bella Baxter wird perfekt von Emma Stone dargestellt. An ihrer Seite glänzen Mark Ruffalo als skrupelloser Vormund und Willem Dafoe als mitfühlender Adoptivvater. Eine glänzende Besetzung also und auch das überschwängliches Lob vieler Filmkritiker:innen begleiten den Film. Ich hingegen habe hauptsächlich Ekel und Unbehagen empfunden. Die aufdringliche Inszenierung und die vulgären Szenen machen POOR THINGS für mich zum Flop des Festivals, wohl ganz gegen die Meinung vieler.
MADELEINE HIRSIGER
👍 BÂTIMENT 5 von Ladj Ly (Frankreich, 2023, Drama
Man wird Teil des Leides, der immer wiederkehrenden Schikanen, denen die Migrant:innen, Franzosen und arme Leute in diesen Grossüberbauungen am Rande von Paris ausgesetzt sind. Im Mittelpunkt steht die junge Haby, Präsidentin einer Wohneinheit, die unerschrocken kämpft, um den Leuten über die Runden zu helfen. Nach LES MISERABLES zieht uns der begabte französische Regisseur Lady Ly erneut in seinen Bann. Ein Hoch auf sein ungebrochenes Engagement für diejenigen, die auf der Schattenseite der Gesellschaft leben.
👎 HOW TO HAVE SEX von Molly Manning Walker (UK, Drama) und THE PALACE von Roman Polański (Italien, Komödie)
Ich kann nicht anders und muss dringend zwei Filme nennen, die für mich den ultimativen Festival-Flop ausmachen. Molly Manning Walker erprobt die Sauffestigkeit und der nächtliche Durchhaltewille von drei Teenagerinnen auf einer griechischen Ferieninsel – ohne jeglichen Mehrwert. Und Roman Polanski zieht in THE PALACE die unterste Schublade. Mit seiner völlig überdrehten pseudo-sarkastischen Inszenierung einer Silvesterparty in einem Nobelhotel in Gstaad, langweilt uns Polanski bis an die Schmerzgrenze.