Es kommt selten vor, dass ein Film die arttv Filmredaktion dermassen begeistert, dass gleich zwei Kritiker*innen eine Rezension schreiben möchten. «Beyto» von Gitta Gsell ist so ein Film. Ihre subtile Geschichte eines jungen schwulen Türken, der als Secondo in der Schweiz lebt und in Anatolien mit seiner Cousine zwangsverheiratet wird, überzeugt. arttv Filmjournalistin Madeleine Hirsiger und arttv Chefredaktor Felix Schenker über ein Kinoerlebnis, das ihnen besonders gut gefallen hat.
Beyto
Der Gewinner des Prix du Public an den Solothurner Filmtagen 2021 kommt - nach dem durch Corona bedingten Stopp - zurück in unsere Kinos.
arttv Rezension
Mit «Beyto» setzt die Zürcher Regisseurin Gitta Gsell in der Schweizer Spielfilmszene ein starkes Zeichen. Mit ihrem neusten Werk führt sie uns mit sicherer Hand durch heikle Themenbereiche, die grosses Fingerspitzengefühl abverlangen. Im Zentrum der Geschichte: der junge Türke Beyto, der als kleines Kind mit seinen Eltern in die Schweiz gekommen ist und als junger Mann merkt, dass er schwul ist. Eine explosive kulturelle Mischung mit grossem Erzählpotential, das Gitta Gsell geschickt auf die Leinwand bringt. Der junge Beyto ist im Kebab-Laden seiner arbeitsamen Eltern tätig, daneben trainiert er für eine Meisterschaft im örtlichen Schwimmklub. Hier schlägt sein Herz, hier kann er zeigen, wie gut er ist und hier verliebt er sich in seinen Trainer Mike. Als er von zwei Freundinnen seiner Eltern an einer schwul-lesbischen Parade gesehen wird, wird es für ihn zu Hause ungemütlich. Abstreiten ist angesagt, denn darüber reden geht gar nicht. Das, was ist, darf und kann nicht sein. Nicht beim Sohn türkischer Eltern – niemals.
Mit dem Argument, seine geliebte Grossmutter liege im Sterben, wird Beyto in die Türkei «entführt». Dort haben seine Eltern arrangiert, dass er seine Jugendfreundin Seher heiraten soll, um das Image einer intakten türkischen Familie aufrecht zu erhalten. Durch die Heirat wird sich alles von selbst ergeben und Beytos sexuelle Orientierung war nur eine zeitweise Verwirrung, so die Hoffnung der Eltern. Auch Ihm ist klar, dass er Seher heiraten muss. Sie ist eine junge, gescheite Frau, die Beyto seit seinen Kindertagen gern hat und deren Zukunft er nicht zerstören will. Er offenbart sich ihr. Was folgt, ist ein weiterer gewagter und gelungener Schachzug der Regisseurin Gitta Gsell. Dazu nur so viel: das Ende des Films ist aufbauend. «Beyto» ist auch eine Art Lehrstück, das für interkulturelles Verständnis plädiert. So soll auch der Schweizer Mike verstehen, was es heisst, aus einer türkischen Familie zu stammen, die voll in den Traditionen verwurzelt ist, auch wenn diese schon seit Jahrzehnten in der Schweiz wohnt. Mike muss lernen zu ertragen, dass der familiäre Zusammenhalt für Beytos Eltern das Wichtigste ist und es für Homosexualität in diesem Kulturkreis keinen Platz gibt. Denn da ist «Schwul sein» immer noch des Teufels. Eine heile Familie mit möglichst vielen Kindern, das ist der Traum von Beytos Eltern. Und dafür kämpfen sie mit allen Mitteln. Ihre Integration ist vordergründig, alle Kontakte laufen über türkische Freunde und Familienmitglieder.
Der rebellische Beyto verkörpert für uns die Hoffnung, dass sich die nächsten Generationen von Migranten in der westlichen und toleranteren Gesellschaft etablieren können, dass die Integration für sie möglich ist, ohne ihre Herkunft verleugnen zu müssen. Die eindrücklichen Schauspieler Burak Ates und Dimitri Stapfer geben Gitta Gsells inszenierten Geschichte, die auf dem Buch «Hochzeitsflug» von Yusuf Yesilöz basiert, ein glaubhaftes Gesicht. Für Burak Ates ist es die erste Filmrolle. Er wurde 1994 in Solothurn geboren und ist ausgebildeter Produktionsmechaniker. Seine türkischen Eltern waren gar nicht erfreut, dass ihr einziger Sohn einen Homosexuellen spielt: Gott sei Dank nur im Film – im realen Leben wäre das für sie grauenhaft. Burak Ates besucht nun die Schauspielschule in Zürich. Und Dimitri Stapfer zeigt als Mike überzeugend, dass er ein äusserst begabter Schauspieler ist. Das beweist er auch bewegt und engagiert in der SRG-Serie «Frieden», die auf Play Suisse kostenlos gestreamt werden kann. Wir warten auf Fortsetzungen. Madeleine Hirsiger
Zum Film
Er ist ein talentierter Schwimmer, ein motivierter Lehrling, ein cooler Kumpel: Beyto steht mitten im Leben, vor sich eine rosige Zukunft. Eigentlich. Doch als sich der einzige Sohn türkischer Einwanderer in seinen Trainer Mike verliebt, bricht die heile Welt zusammen. Schockiert und beschämt sehen seine Eltern nur einen Ausweg: Beyto muss heiraten, Tradition und Ehre wahren. Sie locken ihren Sohn in ihr Heimatdorf und planen ihn mit Seher, seiner Freundin aus Kindheitstagen, zu verheiraten. Plötzlich befindet sich Beyto in einer zerreissenden Dreiecksbeziehung: Wie kann er zu Mike zurückfinden ohne Seher ihrer Zukunft zu berauben?
arttv Rezension Felix Schenker
Ihre subtile Geschichte eines jungen schwulen Türken, der als Secondo in der Schweiz lebt und in Anatolien mit seiner Cousine zwangsverheiratet wird, brilliert nicht zuletzt durch hervorragende schauspielerische Leistungen. Etwa Beren Tuna, die die Mutter von Beyto spielt. Tuna gewann 2016 den Schweizer Filmpreis für ihre Hauptrolle in «Köpek». In «Beyto» steht sie für die Zerrissenheit vieler konservativer Eltern, die in den modernen Westen eingewandert sind. Die Szene, in der sie ihren Sohn auf die Hochzeit vorbereitet und ihm das weisse Hemd zuknöpft, geht unter die Haut. Hier trifft Mutterliebe auf subtile Gewalt. «Es zählt die Familie, nicht die Liebe», sagt sie zu ihrem Sohn, der keine Schande über ihren Clan bringen soll. Das Aufeinanderprallen zweier Lebenswelten – auf der einen Seite die liberale Schweiz, auf der anderen das traditionelle Anatolien, wird in «Beyto» bestechend, temporeich und farbenfroh von Regie und Kamera in Szene gesetzt. Einen entscheidenen Beitrag, dass das so hervorragend gelingt, trägt auch Schauspieler Dimitri Stapfer bei, er verkörpert Mike, Beytos Schwimmtrainer. Bald sind die beiden jungen Männer schwer verliebt. «Weisst du, warum ich schwul bin? Weil es schön ist!», sagt Mike locker zu seinem neuen Lover. Dass das für Beyto nicht ganz so einfach ist, muss Mike erst lernen. Diesen Prozess hat Regisseurin Gitta Gsell feinfühlig herausgearbeitet. Ihr Film, der auf der Romanvorlage «Hochzeitsflug» von Yusuf Yesilöz basiert, präsentiert sich modern und frei von Klischees.
Weitere Stimmen
Der Film hat der Regisseurin anspruchsvolle Dreharbeiten abverlangt. Um den Film realisieren zu können, sah man sich mit einigen Schwierigkeiten konfrontiert, lässt die Regisseurin verlauten. Die Adaption des Drehbuchs und die Organisation von Drehbewilligungen in der Türkei stellten Herausforderungen dar. Auch war es nicht leicht, in der Schweiz einen jungen Mann zu finden, der die türkische Kultur verkörpert und dennoch bereit war, eine homosexuelle Rolle zu spielen. Gsell sah sich mit etlichen Absagen konfrontiert. Fündig wurde sie mit Burak Ates. Und das ist dann auch die eigentliche Sensation des Films. Der mittlerweile 25-jährigen Schweizer, ohne jegliche Schauspielerfahrung, ist zum allerersten Mal in einem Spielfilm zu sehen. Von Beruf ursprünglich Produktionsmechaniker meistert er seine erste Rolle mit Bravour. Wer «Beyto» gesehen hat, hat also gute Chancen, bei der Geburtsstunde eines neuen Schweizer Filmstars zugegen zu sein. Beste Aussichten am Zurich Film Festival mit einem Preis ausgezeichnet zu werden, hat der Film sowieso. Felix Schenker, arttv Chefredaktor