Tabea Martin gehört zu den eigenwilligsten Choreografinnen der Schweizer Tanzszene. Die Bühne Aarau und das Kurtheater Baden präsentieren eine Trilogie von Tanzstücken aus ihrer Hand, die die existenziellen Fragen menschlichen Lebens aus einer sehr persönlichen Perspektive behandeln. arttv begleitet Tabea Martin seit den Anfängen ihrer Karriere und dokumentierte auch Bühnenstücke, die gemeinsam mit Matthias Mooij entstanden sind.
Wenn das Ende zum Anfang wird
«Was mich interessiert, ist der Körper in seiner Verletzlichkeit. Der Körper, der nicht mehr weiter weiss, der Schutz sucht und immer wieder versucht, aus einer Krise herauszukommen.»
Tabea Martin
Tabea Martin | Ein Portrait
Von Peter Kelting
Tabea Martin ist eine wache und kritische Zeitgenossin. In ihren Chorereografien geht sie meist von sehr konkreten Themen aus, die aktuelle gesellschaftliche – aber auch allgemein menschliche und zeitlose – Fragen behandeln, Fragen, in denen sich die Zuschauer:innen wieder erkennen können. Ihr Blick auf unsere Gegenwart ist aber keineswegs eindimensional. Jeder Stoff wird im Laufe der Probenarbeit aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet. So sind ihre Kreationen ausgesprochen assoziativ und immer wieder überraschend. Mit viel Sinn für Humor und ironische Brechungen spielt sie mit den gesellschaftlichen Normen, aber auch mit den Konventionen des Tanzes. Sie entwickelt dabei zusammen mit ihren Tänzer:innen starke und überwältigende Bilder. Überhaupt sind alle Mitwirkenden auf und neben der Bühne auf Augenhöhe in den Kreationsprozess einbezogen. Ihre Tänzer:innen sind keine Bewegungsmaschinen, sondern als Performer:innen erkennbar eigenständige Persönlichkeiten, die sich und ihre Geschichten in die Stücke einbringen. Dabei kommt ihr zugute, dass sie als Choreografin für Schauspielinszenierungen und Musiktheater auch spartenübergreifend arbeitet. Im Laufe der Jahre hat sie so mit ihrer Compagnie, mit der sie in ganz Europa gastiert, eine unverkennbar eigene «Handschrift» entwickelt, die in keine Schublade passt.
Tabea Martin (1978) ist in der Schweiz aufgewachsen. Sie studierte Modernen Tanz an der Hochschule der Künste in Amsterdam und tanzte in unterschiedlichen Compagnien in den Niederlanden. Daneben machte sie aber schon bald mit ersten eigenen Choreografien auf sich aufmerksam. Und ausserdem entstanden in dieser Zeit drei Performances, die sie zusammen mit ihrem künstlerischen und Lebensgefährten, dem Regisseur Matthias Mooij, realisierte und die sie u.a. mit dem Theaterspektakel Zürich koproduzierte. Aber wie geht es weiter, wenn man den Partner verliert? Nach dem frühen Tod von Matthias Mooij im Jahr 2014 kehrte Martin zurück in ihre Heimat nach Basel, wo sie ihre eigene Compagnie gründete. Ihre persönlichen Erfahrungen mit dem Tod wurden zu einer wichtigen Inspirationsquelle für die Trilogie über die Vergänglichkeit, in der sie das Thema aus unterschiedlichen Perspektiven behandelt.
This is my last dance
Der erste Teil ist ein Duett, in dem Tabea Martin selbst mit der italienischen Choreographin Simone Bertozzi auf der Bühne steht. 2018 entstanden, stellt das Stück sehr explizit die Frage nach dem Verfall des menschlichen Körpers. In unserer Kultur wird die Schönheit vor allem mit jugendlicher Perfektion assoziiert. Zählt der Körper noch, wenn die Vergänglichkeit sichtbar wird? In der Aufführung spiegeln sich die Tänzerinnen gegenseitig in ihren Bewegungen, während sich ihre Körper auf einem raffinierten Tanzboden reflektieren, das den Raum verdoppelt. In dieser Leere hallt der Körper nach. In dieser für Martins Werk eher introvertierten Choreografie wird der Verlust eines Partners mit der Vergänglichkeit des eigenen Körpers kontrastiert.
7. Dezember 2022, Alten Reithalle
Forever
Das zweite Stück ist eine Performance für ein junges Publikum, die Martin 2019 zur Uraufführung brachte. In «Forever» erkundet Tabea Martin das Thema Sterblichkeit anhand von Interviews mit Kindern. Sie fragte sie, wie sie sich ihren Tod und das Leben nach dem Tod vorstellen, wie sie gerne sterben würden und was passieren kann, wenn wir alle unsterblich wären. Und sie erfuhr in den Gesprächen, die das Ausgangsmaterial für ihre Choreografie bildeten, dass Kinder erstaunlich unverkrampft mit dem Thema umgehen. Dieser leichte Zugang zu komplexen Themen ist überhaupt eine von Martins Stärken. Die Kreation von Werken für ein junges Publikum ist dafür eine wichtige Quelle. Denn auch Kinder haben uns etwas zu bieten, wenn es um die Leichtigkeit des Seins geht. Es ist diese freundliche Ironie, die «Forever» auf den Punkt bringt. Der Tod ist so schwer, wie man ihn macht, sagt Tabea Martin. Jeder Abschied ist auch ein Neuanfang. Ob es uns gefällt oder nicht, es ist das Gesetz der Natur. Aber dieser Neuanfang kann auch ein langer und beschwerlicher Weg sein, von dem andere oft wenig wissen.
6. Dezember 2022, Bühne Aarau | 9. Dezember 2022, Alten Reithalle
Nothing Left
Der letzte Teil der Trilogie arbeitet Martin mit einer grossen Besetzung. Dieser letzte Teil zeigt vor allem, wie wir mit dem Tod im sozialen Kontext umgehen. Was zunächst wie eine ausgefallene Modenschau anmutet, entpuppt sich als Persiflage auf unseren Umgang mit der Trauer. Das Nachdenken über den Verlust ist uns unangenehm, schliesslich gibt es in unserer Gesellschaft kaum noch Rituale, in denen Trauer ihren Platz findet. «Nothing Left» zeigt in einer raffinierten Kombination aus Bewegung, Musik und Text, wie wir den anderen trösten, besänftigen und sogar auf fast unangemessene Weise in die Ausweglosigkeit führen. Am Ende müssen wir weitergehen, ob wir wollen oder nicht, und das bringt uns zurück zum eigentlichen Kern der Trilogie: «I don’t want to continue, I have to continue, so I continue». (Samuel Beckett)
13. Dezember 2022, Kurtheater Baden
(Text: Peter Kelting)