«Er zeigte auf ihre Wangen und da bekam er solchen Hunger, dass er anfing, seine Tochter zu essen. Und wenn er nicht gestorben ist, dann isst er sie noch heute.»
Katja Brunner, Von den Beinen zu kurz.
Theater Winkelwiese | Von den Beinen zu kurz
Ein Tribunal
Da ist ein Vater, eine Mutter, ein Kind. Was sich in der scheinbar geregelten Welt dieser Kleinfamilie abspielt, erfahren die Zuschauer durch die Perspektive des Kindes. Die Tochter steht unter einem Redezwang, rekonstruiert das Geschehene, behauptet ihre Version der Wahrheit und versucht damit, sich den Boden unter den Füssen wieder zu erkämpfen, der ihr weggezogen wurde. Die Autorin lässt diese Tochterfigur vielstimmig zu Wort kommen, sie spricht und widerspricht sich, rechtfertigt und erinnert sich. Sie steht vor dem Publikum wie vor einem Tribunal, für das, was geschehen ist, gibt es in der öffentlichen Meinung nur die Kategorien Böse und Gut, das weiss sie. Dennoch wehrt sie sich dagegen, verteidigt sich und ihre Familie – das Einzige, was sie hat.
In Katja Brunners beeindruckendem Debüt wird die Sprache zu einem Seziermesser, das die Vater-Mutter-Kind-Welt zerschneidet und die schwindelerregenden Abgründe menschlicher Leidenschaft aufdeckt. Der Text nähert sich analytisch und unvoreingenommen einem Thema, zu dem oft sehr klare Opfer-Täter-Haltungen bezogen werden. Er zeigt die Komplexität der Wirklichkeit und hinterfragt normierte Moralvorstellungen.