Janáčeks letzte Oper erfährt in Basel eine musikalische und szenische Wiedergabe, die niemanden unberührt zurücklehnen lässt – gnadenlos und hart, aber mit ergreifender Kraft
Theater Basel | Aus einem Totenhaus
Inhalt:
Ort: Ein Strafgefangenenlager, z. B. in Sibirien
Den Rahmen der Oper bildet die Einlieferung des aus politischen Gründen verhafteten Gorjatschikow, der sich mit dem jungen Häftling Aljeja anfreundet, und seine überraschende Entlassung am Ende der Oper. Dazwischen erfährt man in längeren und kürzeren Monologen von Einzelschicksalen, Hoffnungen und Enttäuschungen der Mitgefangenen, erlebt die Brutalität, mit welcher die Aufseher die Häftlinge traktieren, nimmt an einem Osterfest und an einem Theaterspiel im Lager teil und begreift, warum einigen Insassen nur noch der Weg in den Wahnsinn bleibt. Ein brutal klingender Marsch ruft die Gefangenen am Ende der Oper wieder zur Arbeit und setzt einen unversöhnlichen Schlusspunkt.
Kritik:
Mit brutalem, gnadenlosen Realismus zeigt Regisseur Calixto Bieito die Hölle dieses Gefangenenlagers; ein Hölle, die sowohl durch den Umstand des Freiheitsentzugs als auch – frei nach Sartre – durch die Andern, die Mithäftlinge, den Kommandanten und seine Schergen entsteht und der keiner entfliehen kann. Die unerbittliche Ausweglosigkeit dieser unmenschlichen, von schreiender Ungerechtigkeit erfüllten, durch Menschen verursachten Situation, welche zu Tod, Mord, Wahnsinn, Korruption und sexuellem Missbrauch führt, wird in der Basler Neuinszenierung ungeschönt, aggressiv und direkt dargestellt. Bereits beim Fussballspiel im Gefängnishof, zu der vom Sinfonieorchester Basel so eindringlich gestalteten Ouvertüre, sind die kommenden Gefühlsschwankungen zwischen Freude, Wut, Verzweiflung und Aggression passend zu den unterschiedlichen musikalischen Motiven angelegt.
Für Emotionen oder Mitgefühl bleibt in diesem Lager, das überall stehen könnte, praktisch kein Platz, und wenn Gefühle dann doch einmal kurz aufschimmern, wie in der Zuwendung des politischen Häftlings Gorjantschikow zum von zwei Wachmännern vergewaltigten Alej, werden sie durch Todesschüsse gleich wieder zum endgültigen Verstummen gebracht. Wenn man dieser Inszenierung einen Vowurf machen könnte, dann den, dass jegliche Menschlichkeit gleich abgewürgt wird. Von den göttlichen Funken in jedem Menschen ist kaum etwas zu spüren, selbst der Appell des alten Sträflings „Auch ihn hat eine Mutter geboren“ verhallt ohne Echo. Selbst das Osterfest und die anschliessenden, von unterdrückten sexuellen Wünschen durchsetzten Pantomimen enden nach dem orgiastischen Tanz in Vergewaltigung und Massenhinrichtung.
Janáčeks sperrige letzte Oper erfährt in Basel eine Wiedergabe von allergrösster szenischer und vor allem auch musikalischer Intensität. Sämtliche Sänger (es sind nur Männer, auch die einzige weibliche Rolle, eine Dirne, wird in Basel von einem Mann dargestellt) verschreiben sich mit jeder Faser ihres Körpers und ihrer Stimme den geforderten Rollen, zeichnen ergreifende Psychogramme ihrer Figuren. Sie singen und spielen mit überwältigender Eindringlichkeit, bis zur Selbstentblössung: Rolf Romei als Skuratow, der immer mehr die Gestalt seiner geliebten Luisa annimmt, Claudio Otelli als Schischkow, der seinen langen Monolog zu einem grandiosen Moment des Abends werden lässt oder Eung Kwang Lee, der so ergreifend seine Hilflosigkeit zeigt, als sein Geliebter Alej (anrührend: Fabio Trümpy) blutüberströmt nach dem sexuellen Missbrauch durch die Schergen in seinen Armen liegt. Ludovit Ludha als Filka und KarlHeinz Brandt als Schapkin ergänzen überzeugend das Ensemble der Gefangenen. Auf der andern Seite agieren Andrew Murphy und Erlend Tvinnereim mit krasser, menschenverachtender Brutalität als Platzkommandant und Wache.
Die karge Bühne von Calixto Bieito und Philipp Berweger, mit dem Doppeldecker (anstelle des Adlers im Libretto) als Symbol der Hoffnung und der Freiheit und die durch Ingo Krügler so treffend entworfenen Bekleidungen tragen das ihrige zur stimmigen Umsetzung des Dramas bei. Sie unterstreichen damit gekonnt die Kargheit der Musik und fokussieren den Blick des Zuschauers auf die Abgründe und die Hölle, durch welche die Gefangenen gehen müssen.
Ein ganz besonderes Lob gebührt der Maskenbildnerei des Basler Theaters. Wie die Abgestumpftheit, die Aggression, die Wut und die psychischen und physischen Verletzungen in den Gesichtern der Gefangenen zu erkennen sind, zeugt von grösster Professionalität.
Das Sinfonieorchester Basel unter der einfühlsamen Leitung von Gabriel Feltz evoziert die expressionistischen Klänge mal mit feiner, dann wieder kräftig herber Klangmalerei.
Fazit:
Janáčeks letzte Oper erfährt in Basel eine musikalische und szenische Wiedergabe, die niemanden unberührt zurücklehnen lässt – gnadenlos und hart, aber mit ergreifender Kraft.
Werk:
Leoš Janáček – neben Puccini und Richard Strauss der meistgespielte Komponist des vergangenen Jahrhunderts – schuf mit seiner letzten Oper ist zugleich eines der ungewöhnlichsten Werke des 20. Jahrhunderts. Als Vorlage diente dem Komponisten Dostojewskis autobiografisch gefärbter Roman, in welchem Dostojewski eigene Erlebnisse als Häftling im Gefängnis von Omsk verarbeitete. Leoš Janáčeks formte die Vorlage unter Verwendung von zum Teil wortgetreuen textlichen ?bernahmen in eine bewegende Oper ohne klar durchgehende Handlung um. Als Motto schrieb Janáček über seine Partitur: In jeder Kreatur ein Funke Gottes.
Die Ouvertüre war zuerst als Violinkonzert (mit dem Titel Wanderung einer Seele) konzipiert.
Die für Janáček so typischen, minimal gehaltenen Motive, die rhythmischen Ostinati und herb, aber transparent klingenden Akkordschichtungen und die reine Männerbesetzung verleihen dem quer zur Operntradition stehenden, schwer verdaulichen Werk eine Ausnahmestellung.
Für oper-aktuell: © Kaspar Sannemann, 9. November 2009