Prunkstück der italienischen Opernromantik in einer nicht zwingenden Neuinszenierung! Einzig Elena Mosuc in der Titelpartie vermag zu berühren.
Opernhaus Zürich | Lucia di Lammermoor
- Publiziert am 13. September 2008
Kritik:
Eben noch flimmerten die aufwühlenden Bilder zum Gedenken an die unfassbaren Terroranschläge von 9/11 auf die Twin Towers des World Trade Centers über die Bildschirme – nun begegnen wir einem zerborstenen Wolkenkratzer aus Glas und Stahl auf der Bühne des Opernhauses, welcher das Einheitsbühnenbild dieser Neuinszenierung prägt. Es mag sein, dass diese Assoziation nicht beabsichtigt war, sie stellte sich bei manchem Besucher unweigerlich ein. Dies hätte den Verantwortlichen bewusst sein müssen. Als sich dann auch noch ein Stuntman effektvoll vom Wolkenkratzer (als Lucia nach deren Wahnsinnsszene) in die Tiefe stürzte, war der Gipfel der Geschmacklosigkeit erklommen. Der Turm diente wohl als Symbol für eine in ihrem tiefsten Kern zerstörte Gesellschaft. Immerhin funktionierten trotz der äusserlichen Zerstörungen die elektrischen Leitungen im Innern des Turms noch, so konnten sich darin einige nette visuelle Effekte abspielen.
Vier Neuinszenierungen von Werken, welche immerhin noch vergangene Spielzeit gegeben wurden, hat das Opernhaus für diese Saison angesetzt. (Neben LUCIA folgen noch FIDELIO, TOSCA und COSI FAN TUTTE.) Deshalb muss sich jede dieser Neuinszenierungen unweigerlich auch an ihren Vorgängerinnen messen und auf ihre Notwendigkeit hin hinterfragen lassen.
Dieser erste Vergleich fällt leider zuungunsten der Arbeit des jungen Teams um Regisseur Damiano Michielotto aus. Vermochte er im ersten Bild mit dem Auftritt des mit Taschenlampen und Spürhund ausgerüsteten Spähertrupps noch zu überzeugen, verflachte die Inszenierung im Verlauf des Abends, von einer prägenden, durchdachten Personenführung blieb nicht viel übrig (manches lief sogar der Musik explizit zuwider, so die verspätete Selbsttötung des Edgardo und der verfrühte Tod der Lucia); die Protagonisten flüchteten sich zusehends in konventionelle Operngestik. Zu vendetta und furor wurde gerade mal die Faust geballt, die dramatische Auseinandersetzung zwischen Enrico und Edgardo fand nicht zwischen den Kontrahenten statt, jeder stand an der Rampe und sang steif ins Publikum. An die klug durchdachte, eindringliche und berührende Inszenierung Robert Carsens aus den 80er Jahren reicht diese Neuinszenierung nicht im Entferntesten heran.
Auch Elena Mosuc, welche die Partie schon seit vielen Jahren erfolgreich in Zürich und anderswo verkörpert, wirkte in ihrem Agieren seltsam distanziert. Allerdings wurde dann die Wahnsinnsszene, welche sie zum Teil in der Embryonalstellung sang, durch ihre subtile und intensiv – berührende Gestaltung zu Recht zu einem umjubelten Höhepunkt des Abends. Die Sauberkeit ihrer herrlichen Stimme, welche vor allem im Zwiegesang mit der Flöte so wunderbar erklang, zeigt die Klasse und Grösse dieser Künstlerin. Sie setzt nicht auf oberflächlich demonstrative Lautstärke, sondern auf Empfindung – leider ganz im Gegensatz zu ihren Partnern an diesem Premierenabend.
Das mit Spannung erwartete Debüt des jungen, gut aussehenden Tenors Vittorio Grigolo hier am Haus wurde zwar heftig bejubelt. Welch eine Kraft, welch wunderschöne Stimme, welch ein Schmelz – mit viel Enthusiasmus stürzt er sich in seine Rolle, als einziger geht er darstellerisch aus sich heraus, zur grossen Freude seiner Verehrerinnen darf er auch seinen muskulösen Oberkörper im Finale des zweiten Aktes entblössen. Doch der Diamant bedarf noch des Feinschliffs – oder er muss sein Volumen an die Dimensionen des Hauses anzupassen verstehen. Stellenweise sang er seine Partnerin und seine Partner regelrecht an die Wand. Ob seine Stimme seinem konstanten fortissimo auf Dauer standhalten kann, wird die Zukunft zeigen – ein Versprechen ist sie allemal.
Sein Gegenspieler Enrico wurde ebenfalls von einem jungen Sänger gesungen, Massimo Cavalletti. Auch er darf sich einer wunderbar satt strömenden Stimme glücklich schätzen, seine Gestaltung der Partie wirkte jedoch noch sehr eindimensional. So kam sein Ausruf „Ah perfida!“ völlig emotionslos und beinahe unbeteiligt daher, obwohl für ihn doch eine Welt zusammenbrechen müsste, nachdem sein ganzes Intrigengeflecht durch den Mord Lucias an Arturo zerstört worden war. Den Arturo zeichnete Boiko Zvetanov so richtig snobistisch überheblich, er holte das Maximum aus dieser kleinen, undankbaren Partie heraus. László Polgár sang mit herrlich differenziertem, autoritärem Bass die Rolle des zwielichtigen Priesters Raimondo.
Als Spiritus Rector der Aufführung bezeichnete der Intendant Maestro Nello Santi, der damit seine 50jährige Verbundenheit mit dem Opernhaus Zürich feiern darf. Natürlich kennt er die Partitur wie wohl kaum ein anderer und zaubert mit dem grossartig spielenden Orchester der Oper Zürich herrliche Farben aus dem Orchestergraben.
Doch bei aller Schönheit manchen Details: Wirklich berührt hat die tragische Geschichte nicht.
Fazit:
Die Aufführung erreicht bei weitem nicht die szenischen Qualitäten ihrer Vorgängerin. Wirklich unter die Haut geht diese wunderbare Oper nicht. Elena Mosuc glänzt als differenziert gestaltende Titelheldin
Das Werk:
Lucia di Lammermoor ist das Prunkstück der italienischen Opernromantik. Ein überragendes, unglaublich zeitüberdauerndes Libretto inspirierte Donizetti zu seinen wohl schönsten musikalischen Eingebungen. Lucia ist ganz im wörtlichen Sinne eine Lichtgestalt der Opernwelt, die unbefleckte Mörderin. Die Popularität dieser Oper hat auch in der Literatur ihre Spuren hinterlassen, von Flauberts Madame Bovary über Tolstois Anna Karenina bis zu Lampedusas Gattopardo, in welchem das Tenorfinale aus Lucia di Lammmermoor den inneren Monolog des Don Fabrizio begleitet.
Dieses Tenorfinale stellt einen formgeschichtlichen Geniestreich dar, steht doch – im Gegensatz etwa zu Bellinis Hauptwerken – für einmal nicht die Primadonna mit einem Bravourstück am Ende einer Belkanto Oper, sondern der Primo Uomo in einer Szene, welche den Lebenspessimismus, der dieses Werk prägt, so berührend vermittelt.
Synopsis:
Höchst brisant und leider immer noch aktuell:
Verfeindete Familien, Zwangsheirat, Unterdrückung der Selbstbestimmung der Frau, zwielichtige Rolle der kirchlichen Würdenträger …
Lucia Ashton liebt Edgardo Ravenswood, den Todfeind ihres Bruders Enrico.
Edgardo muss aus politischen Gründen fliehen, doch die beiden Liebenden schwören sich beim letzten heimlichen Rendez-vous ewige Treue.
Enrico fängt sämtliche Briefe Edgardos an Lucia ab, ja er fälscht sogar Briefe, um Lucia von der Untreue ihres Geliebten zu überzeugen. Mit Hilfe des Priesters Raimondo zwingt er Lucia zur Heirat mit Arturo Talbot, von dem er sich politische Unterstützung erhofft.
Mitten in die Hochzeitszeremonie platzt Edgardo und überhäuft Lucia mit Vorwürfen des Verrats und der Untreue.
Lucia hat in der Hochzeitsnacht in zunehmender geistiger Umnachtung Arturo erstochen.
Enrico fordert Edgardo zum Duell bei den Gräbern der Ravenswoods. Edgardo erfährt von Lucias Tat und ihrem Wahnsinn. Die Totenglocke erklingt. Edgardo folgt der Geliebten durch Selbsttötung in den Tod.
Musikalische Höhepunkte:
Cruda funesta smania, Kavatine des Enrico, Akt I
Regnava nel silenzio, Auftrittsarie der Lucia, Akt I
Sulla tomba che rinserra … Verranno a te, Duett Lucia-Edgardo, Akt I
Se tradirmi tu potrai, Duett Lucia-Enrico, Akt II
Chi mi frena in tal momento, Sextett, Finale Akt II
Il dolce suono … Ardon gli incensi, Wahnsinnsszene der Lucia, Akt III
Tombe degli ave miei … Tu che a dio spiegasti l’ali, grosses Tenorfinale des Edgardo, Akt III
Für art-tv: © Kaspar Sannemann, 15. September 2008