Das Theater Neumarkt zeigt das Erfolgsformat «All the Sex I’ve Ever Had»
- Publiziert am 8. Dezember 2022
Fünf Zürcher:innen ab 65 betreten die Bühne und beginnen aus ihrem Beziehungsleben zu erzählen.
Das Erfolgsformat der kanadischen Theatergruppe Mammalian Diving Reflex war in vielen Theatern dieser Welt zu sehen: Austin, Glasgow, Helsinki, Ljubljana, Portland, Prag, Taipei, Singapur, Wien oder auch dem Opernhaus in Sydney. Nun startet die aufregende Reise durch die Jahrzehnte in Zürich! Ein erfrischendes Statement gegen den Jugendwahn und ein erotisches Gesellschaftspanorama einer Stadt.
Trau dich!
Dass Scham nicht nur eine Zürcher Spezialität ist, zeigen die Erfahrungen, welche die kanadische Theatergruppe «Mammalian Diving Reflex» mit «All the Sex I’ve Ever Had» seit der Uraufführung 2010 rund um den Globus sammeln durfte. Zwar gibt es Unterschiede zwischen den Regionen, was die Offenheit anbelangt, doch haben sie alle gemein, dass über den «realexistierenden Sex» kaum gesprochen wird. So versteht die kanadische Gruppe das tourende Format in jeder weiteren Stadt aufs Neue als Anstoss für die Einwohner:innen, Hemmungen abzulegen und sich zu trauen über Lust, Sex und Beziehung zu sprechen. Wenn nicht schon auf der grossen Bühne, dann auf dem Nachhauseweg, am Stammtisch oder im Schlafzimmer.
Von der ersten Verliebtheit bis zum Tod
In unserer jugendfixierten Gesellschaft rückt «All the Sex I’ve Ever Had» den Blick auf die Ältesten unter uns. Dieser mit Freude und Tragik gefüllte Abend im Neumarkt Zürich zeigt, wie viel jüngere Generationen von ihren Vorgänger:innen lernen können und dass Altern auch bedeuten kann, offen und neugierig durch diese Welt zu gehen. Die fünf älteren Protagonist:inner erzählten in «All the Sex I’ve Ever Had» von der ersten Verliebtheit über den ersten Herzschmerz, unerfüllten Sehnsüchten, aufregende Affären bis hin zum Tod von Geliebten. Alles der Reihe nach, abwechselnd und Jahr für Jahr. Die Kindheit in den 40ern und 50ern, der Druck auf unverheiratete Paare, die sexuelle Revolution Ende der 60er, das bleierne Tabu homosexuell zu sein, das Coming-out, die grosse Liebe, der unbefriedigende Sex… Geschichte um Geschichte entsteht ein Gesellschaftspanorama ihrer Zeit und eine Geschichte einer Stadt.
arttv Kurzkritik: Super einfach, aber super genial
Das Konzept ist denkbar einfach, fünf ältere Menschen erzählen aus ihrem Leben. Dabei fokussieren sie sich ganz auf ihr Sexleben. Eigentlich darf man an dieser Stelle nichts darüber verraten, was die zwei älteren Frauen und die drei älteren Herren auf der Bühne von sich geben. Zu Beginn des Stückes werden die Zuschauenden nämlich aufgefordert aufzustehen, die Hand auf die Brust zu legen und zu schwören, dass nichts davon, was im Theater erzählt wird, nach Aussen getragen werden darf. Wie ernst das gemeint ist, oder ob es eine rein theatralische Geste ist, wird nicht ganz klar. Denn erzählen muss man, über diesen spannenden Theaterabend, der so intensiv und berührend ist. Unterbrochen werden die Erzählungen durch Publikumsbefragungen. Eine davon regt besonders zum Nachdenken an: Wer wurde schon Opfer von sexueller Gewalt? Entweder ist es tatsächlich erfreulich, dass vom Premierenpublikum im voll besetzten Theatersaal lediglich nur fünf Personen eine solch negative Erfahrung gemacht haben oder aber die Leute haben es einfach nicht gewagt, sich zu melden. (Wobei natürlich jede Person, die sexuelle Gewalt erfahren musste, eine zu viel ist.) Intensive sexuelle Gewalt hat einer der Männer auf der Bühne erfahren, über längere Zeit wurde er von seinem Fussballtrainer missbraucht. Die positiven Geschichten jedoch überwiegen. Man spürt, da haben fünf Zürcher:innen ihr Sexleben in vollen Zügen genossen, mit und ohne Drogen, in und ausserhalb der Ehe, heterosexuell und homosexuell. Die fünft Protagonist:innen erzählen hoch spannend aus einer Zeit, in der alles noch etwas einfacher war, wilder vielleicht als heute, aber nie einfacher.
Gut vorstellbar, dass «All the Sex I’ve Ever Had» genauso ein Publikumsrenner wird wie «EWS – der einzige Politthriller der Schweiz». Das Stück ist seit Wochen und trotz Verlängerung restlos ausverkauft und thematisiert die turbulente Wahl von Eveline Widmer-Schlumpf in den Bundesrat. Auch das ein eigentlich schlichtes Format, mit enormer Wirkung. Die Kraft der Sprache eben!