Ballettdirektor Christian Spuck verabschiedet sich nach 11 Jahren vom Opernhaus Zürich
- Publiziert am 10. Dezember 2022
In «Lontano», mit Musik von György Ligetis, beschäftigt er sich mit den grossen Themen Abschied, Loslassen und Distanz.
Christian Spuck steht beim dreiteiligen Abend der junge Choreograf Louis Stiens zur Seite, der sich für seine Arbeit «Tal» von der opulenten Orchester-Musik Maurice Ravels und Claude Debussy inspirieren lässt. Eine fantastische Choreografie. Dritter im Bunde ist Hans van Manen. Der inzwischen 90-jährige ist längst eine Ballettlegende. Mit seinem titelgebenden «On the Move» übernimmt das Ballett Zürich ein weiteres Meisterwerk des niederländischen Choreografen in sein Repertoire.
arttv Besprechung – On the move
von Felix Schenker
Mondrian in Pastellfarben.
30 Jahre liegen zwischen den Choreographien «On the Move» von Hans van Manen und «Tal» von Louis Stiens. Und es ist genau dieser Gegensatz, der den Ballettabend im Opernhaus Zürich so attraktiv macht. Hans van Manen ist eine lebende Legende in der Ballettszene. Über 150 Choreografien hat der inzwischen Neunzigjährige in seinem Leben geschaffen. «On the Move» ist eine davon, 1992 uraufgeführt. Auch wenn diese Arbeit schon drei Jahrzehnte alt ist, in ihrer Wirkung ist sie ungebrochen. Manen’s «On the Move» begeistert dank seiner streng geometrischen Struktur. Eigentlich ist das Stück eine Art getanzter Piet Mondrian. Hier ist alles definiert und klar. Eine überschaubare Welt, in der die Paare aus Mann und Frau bestehen. Das unterstreichen auch die Kostüme mit ihrem klaren Farbkonzept. Pro Paar wurde eine eigene Farbnuance gewählt. Mondrian in Pastellfarben! Alles entwickelt sich in grösster Harmonie und makelloser tänzerischen Perfektion. Die Tänzer:innen stehen ganz im Mittelpunkt, ohne weitere Requisiten, ganz auf sich selber zurückgeworfen. Das ist sehr schön, das ist zeitlos, das wirkt, das begeistert.
Eine Offenbarung
Im Gegensatz dazu steht «Tal» des jungen deutschen Choreografen Louis Stiens. Eine überwältigende Produktion! Hier ist die Welt divers. Das Schema Mann-Frau ist nicht mehr die einzig mögliche Option. Männer umschlingen Männer, Frauen Frauen, Frauen Männer und umgekehrt. Die Tänzer:innen bewegen sich in einer Mondlandschaft, hängen an einem Felsen, kämpfen gegen eine Welle. Sie versuchen sich festzuhalten und rutschen oder tauchen trotzdem in die Tiefe. Die hauchdünnen, hautfarbenen Kostüme symbolisieren Nacktheit. Der Mensch, schutzlos in einer Natur, deren Idylle zu grossen Stücken verloren gegangen ist.
Ein Tänzer fällt in «Tal» besonders auf: Leroy Mokgate. Der junge Südafrikaner ist erst seit rund sechs Monaten Gruppentänzer in der Company. Seine Bewegungen sind derart «smooth», dass die Augen unweigerlich an ihm haften bleiben. Dieser Tänzer – oder vielleicht Tänzer:in – dieses wunderbar androgyne Wesen, ist eine Offenbarung. Am Prix de Lausanne 2016 gewann Mokgate den Publikumspreis und tanzte von 2019 bis 2022 am Béjart Ballett Lausanne.
Besondere Dynamik
So faszinierend der Tanz von Leroy Mokgate ist, so faszinierend ist auch die Arbeit von Louis Stiens. Ab 2011 tanzte Stiens am Stuttgarter Ballett, verlagerte seine berufliche Tätigkeit aber schon früh Richtung Choreografie. 2018 war erstmals eine Arbeit von ihm am Opernhaus Zürich zu sehen. Die Doppelrolle half ihm im Umgang mit den Tänzer:innen. Als Tänzer weiss er was er vom Ensemble verlangen kann. «Louis hat uns aus unser Komfortzone geholt», so ein Ensemblemitglied an der Premierenfeier. Für «Tal» hat Stiens eng mit der Bühnenbildnerin Bettina Katja Lange zusammen gearbeitet. Das hat sich gelohnt. Die Musik von Claude Debussy und Maurice Ravel hat Stiens mit Klängen kontrastiert, die er gemeinsam mit dem Sounddesigner Michael Utz auf dem Uetliberg aufgenommen hat. Das Rauschen des Windes, bewegtes Gestein, ein Flugzeug, das über den Zürcher Hausberg fliegt. «Gemeinsam mit den Orchesterkompositionen entsteht eine Soundlandschaft, die eine besondere Dramatik entwickelt», sagt der Münchner Choreograf. Das gelingt und macht «Tal» zu einem Erlebnis.
Ein Abschiedsgeschenk
Der dritte Teil des Abends stammt vom Zürcher Ballettmeister Christian Spuck. «Lontano» ist jenes Drittel, das zunächst sperrig und etwas fragmentiert daherkommt. Es braucht eine Weile, bis die Choreografie von Spuck den erhofften Sog und die nötige Spannung aufbaut. «Lontano» entwickelt sich dann aber zu einem grandiosen Gesamtkunstwerk mit besonders starken und intensiven Momenten. Ein schönes Abschiedsgeschenk des Deutschen, der die Geschichte des Ballett Zürich in den letzten elf Jahren geprägt hat und dem Haus 2021 mit seiner «Winterreise» einen besonders eindrücklichen und unvergesslichen Ballettabend geschenkt hat.
Fazit: Einmal mehr bietet das Ballett Zürich einen überwältigenden Ballettabend, bei dem besonders die Arbeit von Lous Stiens in Erinnerung bleibt. Von diesem jungen Choreografen wollen wir mehr sehen. Bitte!
Elf gemeinsamen Jahre
Mit Beginn der Spielzeit 2023/24 übernimmt Christian Spuck die Leitung des Staatsballetts Berlin. Damit geht für das Ballett Zürich eine Ära zu Ende. Seit 2012 hat Christian Spuck das Ballett Zürich mit vielen erfolgreichen Produktionen als eine der führenden Ballettcompagnien Europas profiliert. Nach elf gemeinsamen Jahren verabschiedet er sich mit einer letzten Choreografie von Zürich und seinem Ensemble. Ins musikalische Zentrum stellt er dabei «Lontano», ein berühmtes Stück des ungarischen Komponisten György Ligeti (1923-2006). Die grossen Themen wie das Sich-Entfernen, Distanz und Abschied, die Ligetis Komposition anspricht, gewinnen in dieser neuen Choreografie vor dem Hintergrund von Spucks Abschied von Zürich und dem Eintritt in ein neues Lebenskapitel besondere Aktualität.
Maurice Ravel und Claude Debussy
Die tänzerische Heimat von Louis Stiens ist seit 2011 das Stuttgarter Ballett. Für die Stuttgarter Noverre-Gesellschaft sind seine ersten Stücke entstanden, mittlerweile hat er bereits mehrfach für das Stuttgarter Ballett choreografiert. Mit seiner Choreografie Wounded gab er 2018 seinen Einstand beim Junior Ballett, jetzt kehrt er mit einem neuen Stück nach Zürich zurück. Zur Musik grosser Orchesterpartituren von Maurice Ravel und Claude Debussy befragt er den Naturbegriff des französischen Impressionismus und versetzt den isolierten Körper in seiner Kraft und Schwäche in ein zeitgenössisches Naturbild.
90. Geburtstag
Hans van Manen gehört zu den Ballettlegenden des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Mit seiner unverwechselbaren Mischung aus akademischer Tanztechnik und eigenen Stilelementen hat er eine Tanzsprache entwickelt, die ihn zu einem der bedeutendsten Erneuerer des klassischen Balletts machte. Am 11. Juli 2022 feierte er seinen 90. Geburtstag. Mit On the Move zur Musik von Sergej Prokofjews Erstem Violinkonzert übernimmt das Ballett Zürich ein weiteres Meisterwerk des niederländischen Choreografen in sein Repertoire. 1992 für das Nederlands Dans Theater entstanden, wurde das Stück 2017 von Hans van Manen noch einmal überarbeitet. Wie in all seinen Werken thematisiert er auch in On the Move die zwischenmenschlichen Beziehungen. Das Geheimnis seiner spannungsgeprägten Stücke hat Hans van Manen mit einem Satz auf den Punkt gebracht: «Spannung entsteht, wenn man sich gegenseitig wahrnimmt, besonders bei einem Pas de deux.»