Ihre Aufnahmen zeugen von unterschiedlichen Perspektiven: Während der Künstler Willi Keller den Alltag der Psychiatrischen Klinik Burghölzli um 1970 als Pfleger fotografiert, hält der Industriefotograf Roland Schneider die Psychiatrische Klinik Solothurn 1987 als Patient mit der Kamera fest. Beide zeigen einzigartige intime Einblicke, immer nahe am Menschen. Im Dialog zu den Fotografien zeigt die Ausstellung aktuelles künstlerisches Schaffen aus dem Living Museum Wil.
Durch die Linse | Fotografien aus dem Psychiatriealltag
Willi Keller (*1944, Schaffhausen) besucht 1961 die Kunstgewerbeschule Zürich, 1975/76 folgt ein Studium der Druckgrafik. Als freischaffender Künstler lebt und arbeitet er von 1972-1982 in Zürich und seit 1982 in Marbach SG. Studienaufenthalte 1974 im staatlichen Künstleratelier Amsterdam, 2000 in der Cité Internationale des Arts, Paris. 2001 erhält Willi Keller den Anerkennungspreis der Arbeitsgemeinschaft Rheintal-Werdenberg.
Roland Schneider (*1939) studiert von 1960 bis 1963 an der Folkwang-Hochschule für Gestaltung in Essen Fotografie bei Otto Steinert, dem Begründer der «Subjektiven Fotografie» und einer der bedeutendsten und einflussreichsten Fotografen der Nachkriegszeit. Das Spiel mit Licht und Schatten, mit stark kontrastierenden satten Schwarzflächen, der Hervorhebung von Strukturen, welche die Fotografie in eine bildhafte Abstraktion führen, radikale Ausschnitte – all diese Gestaltungselemente finden sich auch in der Fotografie Roland Schneiders. Früh spezialisiert er sich auf die Industriefotografie, wobei die Beziehung Mensch-Industrie im Zentrum seines Schaffens steht. 1972 bis um 1990 arbeitet er mit dem Fotografen Franz Gloor zusammen. Roland Schneider hat verschiedene nationale und internationale Auszeichnungen erhalten, 1982 den Kunstpreis des Kantons Solothurn. Sein fotografisches Werk ist im Historischen Museum Olten aufbewahrt. Stets begleiten dokumentarische oder künstlerische Texte die Fotografien von Roland Schneider. Er führt Gespräche mit Arbeiter*innen, die er «Oral Histories» nennt. Ziel seiner Arbeit ist seit 1960 der Aufbau einer «Fotografischen Enzyklopädie der industriellen Arbeitswelt», konzentriert auf die Region des Kantons Solothurn, mit dem Titel «Solodorensia».
Intime Einblicke
Anders als eine repräsentative Klinikdokumentation bieten die Fotografien von Willi Keller und Roland Schneider einen einzigartigen intimen Einblick in den Psychiatriealltag. Während der Künstler Willi Keller (*1944) 1970 als Pfleger im Burghölzli in Zürich tätig ist, befindet sich der bekannte Industriefotograf Roland Schneider (*1939) im Sommer 1987 in einer Krise als Patient in der Kantonalen Psychiatrischen Klinik Solothurn. Beide nutzen ihren professionellen Fotografenblick durch die Linse, uns die Lebenssituation in der Klinik und die Patient*innen näher zu bringen. Die Kamera wird zum Bindeglied zwischen Fotografen und Patient*in und steht zugleich zwischen ihnen. Sie schafft Nähe und verleiht dem Fotografen, der hinter der Kamera ohne Blickkontakt zu den Porträtierten bleibt, doch Distanz. Anders als Willi Keller kommt Roland Schneider den Patient*innen nicht nur sehr nahe, sondern ist selber einer von ihnen. Berichtet Willi Keller in seiner Fotoserie über den Klinikalltag, den er wohl mit den Patient*innen teilt, spricht Roland Schneider vom Erlebten des selbst Betroffenen. Ist diese Verschiebung der Perspektive im Bild sichtbar? Lassen sich Unterschiede innerer Distanz erkennen?
Eigene Welten
Die Fotografien beider Künstler bieten mehr als rein visuelle Eindrücke. Sie vermitteln weitreichende sensorische Empfindungen des Klinikalltags: Beengtheit, Lärm und Stille, den Geruch auf den Abteilungen. Da sind die Motive einer entindividualisierten Medizin, die mit Betten gefüllten Schlafsäle und Reihen sanitärer Anlagen. Willi Keller und Roland Schneider setzen ihnen Bilder der Patient*innen entgegen, ihre Einsamkeit in der Menge, ihre Verlorenheit, die Lange-Weile und Verrückungen in eigene Welten. Der Blick durch die Linse ist direkt, nie beschönigend, aber auch nicht voyeuristisch, sondern immer zugewandt und nahe am Menschen. Erstaunlich und heute undenkbar ist die Offenheit der Klinikleitungen, mit der sie die Fotografen frei arbeiten lassen.
Orte künstlerischer Möglichkeiten
Noch immer gilt psychische Erkrankung als Stigma und psychiatrische Kliniken sind für die Allgemeinheit unbekannte Territorien – «Unorte», die gemieden werden. Die Fotografien von Roland Schneiders und Willi Keller wie auch das Kunstschaffen im Living Museum Wil deuten diese Orte um. Der «Unort» Psychiatrie wird hier zum Ort verschiedener, auch künstlerischer Möglichkeiten. Die Werke schaffen Raum für Differenzierung und Hinterfragung und fordern uns auf, Psychiatrie neu wahrzunehmen. Das Living Museum stellt eine Art «Kunstasyl» dar, in welchen Menschen mit psychischen Erkrankungen schöpferisch tätig sind. Es ist Atelier und Ausstellungsraum zugleich: Hier wird im Kunstschaffen gelebt und in der Kunstpräsentation gearbeitet. Dem 1983 in New York gegründeten, innovativen Konzept des Living Museum, eines freien Kunstraums für Menschen mit psychischen Erkrankungen, sind Institutionen weltweit gefolgt. Das Living Museum Wil besteht seit 2002. Täglich arbeiten hier rund hundert Kunstschaffende in den Sparten Musik, Theater, Kunst- und Medien, Keramik, Papier, Glas, Holz. Das lebendige Gestalten im Living Museum Wil wird in das Museum im Lagerhaus transferiert und das Museum temporäre Dependance des Ateliers. Die Kuntschaffenden selbst präsentieren in dieser «Living Exhibition» ihre Werke zum Thema «Tagträume», geben Einführungen und arbeiten vor Ort in der Ausstellung weiter. Im direkten Kontakt mit den Künstler*innen kann die Öffentlichkeit den work in progress begleiten und ist zum gemeinsamen Mitwirken eingeladen.
Textgrundlage: Museum im Lagerhaus