Rasant, provokant und sprachgewandt, oft schmunzeln machend und plötzlich wieder schockierend – mit diesen sieben Short Storys legt Julia Kohli eine Textsammlung vor, die mitten in ein gesellschaftliches Reizthema sticht. Sie ist dabei ebenso unangepasst wie überzeugend.
Julia Kohli | Menschen wie Dirk
- Publiziert am 21. Mai 2021
Lesebrobe
«Es dunkelte bereits vor Trogen ein, dabei war es erst kurz nach Mittag. Dicker Nebel schmiegte sich an die Appenzeller Berge, sog das fahle Dezemberlicht in sich auf. Die Scheinwerfer des alten Peugeot – den Land Rover Defender hatten sie in Frankreich gelassen, um in der Schweiz etwas Bescheidenheit vorzutäuschen – warfen schummrige Lichtkegel auf die Strasse. Bauernhäuser klebten an den rutschig feuchten Hängen, ein einziges Elend, diese Fenster, tote Augen, hinter denen die üblichen Dorfgeheimnisse lauerten: Inzucht, Kuckuckskinder, vergrabene Kinder und dergleichen, ein Wunder, dass dieses jämmerliche Volk sich nicht schon längst selbst vernichtet hat, dachte Pierre, als er beim Betrachten seiner Heimat kurz einnickte. Jacqueline, wachsam wie eine Raubkatze, lenkte den Wagen geschickt durch die Kurven, trat furchtlos aufs Gas, wechselte ruckartig die Gänge. Im Bett ging es ähnlich zu und her. Letzte Woche hatte sie ihn mit einem Strap-on-Dildo überrascht, ihn damit von hinten penetriert, bevor er sich überhaupt Gedanken darüber machen konnte, ob er diese Idee überzeugend fand.»
Zum Buch
Julia Kohli seziert in ihrem zweiten Buch Rollenbilder und Geschlechterkonflikte im Hier und Jetzt. Es sind Paare, Berufskollegen und Unbekannte aus unterschiedlichsten Milieus, die sich begegnen. Sei es ein starker Kerl wie Dirk, eine genervte Zeitungsredaktorin, eine besorgte Mutter oder ein arrivierter Professor: Kohli kommt dem Lebensgefühl ihrer Figuren, deren Selbstverständnis, Komplexen und Ohnmacht im Umgang mit dem anderen Geschlecht mit erstaunlichen Innensichten auf die Spur.
Julia Kohli (*1978, Winterthur) absolvierte eine Buchhandelslehre und studierte Wissenschaftliche Illustration, Anglistik, Osteuropäische Geschichte sowie Kulturpublizistik in Zürich. Sie schreibt u.a. für Das Magazin und die NZZ am Sonntag. Ihr Roman «Böse Delphine» wurde 2018 mit dem Studer/Ganz-Preis für das beste unveröffentlichte Prosadebüt ausgezeichnet. Julia Kohli lebt in Zürich.