Zwölf Autor:innen eröffnen einen spannenden Zugang zu den wichtigsten Filmen von Karl Saurer. Sie geben Einblick in Motivation, Hintergründe, Entstehungsprozesse und schildern ihre Erfahrungen während der Dreharbeiten. Ab November wird die Monografie in mehr als zwölf Schweizer Städten vorgestellt, begleitet von Vorführungen des Films RUHE: Ein filmhistorisches Zeugnis über Kritik und Engagement junger Menschen in der Schweiz nach 1968, das 50 Jahre nach seinem Sendeverbot erstmals zu sehen ist.
Eine Monografie ehrt Leben und Werk des Regisseurs Karl Saurer
Der Schwyzer Filmemacher wurde nie müde in seinem kreativen und filmischen Widerstand gegen Ungerechtigkeit.
50 Jahre nach dem Sendeverbot
«Ruhe» ist ein wertvolles, filmhistorisch einzigartiges Zeugnis über Kritik und Engagement junger Menschen in der Schweiz nach 1968. Im Frühwerk Saurers – heute erstmals öffentlich zugänglich – werden Anliegen einer Generation sichtbar gemacht, die einen umfassenden Werte-Wandel will. Es ist ein seltenes Dokument von Bewegten über die 68-er Bewegung und ihre unmittelbaren Auswirkungen. Eine Politikerin wie Cécile Bühlmann, Historiker wie Prof. Jakob Tanner, Prof. Stefan Sonderegger und Jo Lang, die Historikerin Elisabeth Joris betten den Film in diesen gesellschaftlich wichtigen Wendepunkt ein.
Neben einem kritischen Blick auf die damalige soziopolitische Realität wird in Ruhe diversen Aufbruchs-Bewegungen ein Gesicht und eine Stimme gegeben: dem Kampf um autonome Jugendzentren, gegen geschlechter-spezifische Rollenklischees, für antiautoritäre Erziehung, für die Schaffung eines Zivildiensts, der Frauenbefreiungsbewegung, dem Protest gegen Verdrängung von Wohnraum aus Innenstädten, dem Einsatz für Mietrechte, den Forderungen der Lehrlingsgewerkschaften, der Antirassismus-Bewegung. Alle Gruppierungen zeichnet aus, dass sie nicht halt machen bei ihrer Benennung der Missstände, sondern konkrete Alternativen präsentieren.
Umso bedauerlicher – aber bezeichnend für den damals herrschenden Zeitgeist – dass das Schweizer Fernsehen, in dessen Auftrag der Film entstanden ist, seine Ausstrahlung in letzter Minute aus Angst vor Reaktionen aus Wirtschaft und Politik verhinderte. Nun ist der Film fünfzig Jahre nach seinem zensurbedingten Sendeverbot in einer restaurierten Fassung endlich zu sehen.
Die Anfänge
Karl Saurer wuchs in Einsiedeln auf und fing schon als junger Erwachsenerer an, Drehbücher zu verfassen. Nach zwei Jahren als Primarlehrer studierte er an der Universität Zürich Germanistik mit Schwerpunkt Theaterregie, Geschichte und Psychologie. Im legendär turbulenten Mai 1968 zog er nach München, um Theaterwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität zu studieren, nach weiteren Zwischenstationen in Köln und Osnabrück schloss er seine universitäre Ausbildung mit dem Magister Artium in Medien- und Literaturwissenschaft sowie Psychologie ab. Bereits während des Studiums realisierte er im Team diverse filmische Arbeiten und schrieb Film- und Theaterkritiken für Tageszeitungen und Fachzeitschriften in Deutschland und der Schweiz. Mit Erwin Keusch drehte Karl Saurer «Das kleine Welttheater», seinen ersten Film. Es ist eine Dokumentation über ein Strassentheater. 1971 wurde der Film an den Solothurner Filmtagen gezeigt. Anschliessend konzipierten Saurer und Keusch zusammen mit Gerhard Camenzind und Hannes Meier das neue Jugendmagazin «Die Kehrseite» beim Schweizer Fernsehen. Der erste Beitrag mit dem Titel «Ruhe» (1970/72), eine ironische Beleuchtung der gesellschaftlichen Strukturen, wurde als zu «kritisch» befunden und das ganze Projekt, ohne Diskussion mit den Machern, von der Fernsehdirektion abgebrochen. Als Replik produzierten die Jungfilmer den Film «Es drängen sich keine Massnahmen auf – oder Selbstzensur ist besser», der wiederum an den Solothurner Filmtagen 1973 gezeigt wurde und zu
Auseinandersetzungen mit der Direktion des Schweizer Fernsehens führte. In der Folge führte der Beitrag auch an den Internationalen Kurzfilmtagen in Oberhausen zu einer regen Auseinandersetzung über Zensur in den Medien.
Internationale Erfolge und politisches Engagement
1972 gehört er zu den Mitbegründern der Genossenschaft Filmcooperative Zürich. Es enstanden 1975 «Kaiseraugst», mit dem sie den breiten Widerstand gegen ein geplantes Atomkraftwerk dokumentierten sowie «Tatort Luzern oder wem gehören unsere Städte», in dem sie mehr demokratischen Einbezug der Bevölkerung bei der städtischen Raumplanung einforderten. Ab 1973 schreiben Karl Saurer und Erwin Keusch an einem Spielfilmdrehbuch. Daraus entsteht 1976 unter der Regie von Keusch «Brot des Bäckers». Der Spielfilm erhält diverse Auszeichnungen (Deutscher Filmpreis in Silber, Filmband in Gold für den Hauptdarsteller, Max-Ophüls Preis) und macht eine erstaunliche internationale Kinokarriere. 1981 realisieren sie in Co-Regie «Der Hunger der Koch und das Paradies» – ein Film in dreizehn Gängen, indem sie dokumentarische Aufnahmen, die nicht inszenierbar gewesen wären, mit fiktiven erfundenen Geschichten kombinieren. Wie schon im Vorgängerfilm stehen gesellschaftskritische Anliegen der beiden Autoren im Vordergrund. Der Film erhält die schweizerische Qualitätsprämie.
Lehrtätigkeiten und Lehrfilme
Karl Saurer war von 1980 bis 1984 Studienleiter und Dozent an der Deutschen Film- und Fernsehakademie DFFB in Berlin und war zuständig für das DFFB-Forum mit Gästen wie Joris Ivens, Johan van der Keuken, Alexander Mitta, István Szabó und Andrej Tarkowskij. Ab 1982 war Saurer Dozent an weiteren Universitäten und Lehranstalten. Er leitete Ausbildungsseminare in Europa, Afrika, Indien und den USA. 1982 realisiert Karl Saurer, zusammen mit Hannes Meier, den Dokumentarfilm «Das Unbehagen an der Vergangenheit – Schweizer Spielfilme von gestern und heute». Der Film zeigt, wie der Schweizer Spielfilm zwischen 1938 und 1980 die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg darstellte und stösst damit eine Auseinandersetzung mit einem komplexen, leidvollen und damals wenig aufgearbeiteten Kapitel schweizerischer Vergangenheit an. Der Film wurde vom Bayerischen Rundfunk am 20. Oktober 1982 ausgestrahlt, im Schweizer Fernsehen jedoch nie gezeigt.
Rückkehr in die Schweiz
Ende der 80er-Jahre kehrte er vermehrt nach Einsiedeln zurück, um an dem Filmprojekt über den Bau des Sihlsee-Staudamms zu arbeiten. Die Begegnung mit Elena Fischli bewog ihn dazu, seinen Lebensmittelpunkt wieder in Einsiedeln zu sehen. Mit seiner Lebensgefährtin als Drehbuchautorin realisierte er in der Folge die meisten seiner Filmprojekte. Für die Jubiläums-Feier 700 Jahre Eidgenossenschaft gestalteten sie 1990/91 gemeinsam «8 Bulles d’Utopie», Kürzestfilme mit Fantasien über eine Schweiz der Zukunft. Mit Franz Kälin realisierte er zeitgleich den Film «Holz schläike mit Ross», die Dokumentation einer traditionellen ländlichen Waldarbeit, die einem Kunsthandwek gleichkommt. Der 48-minütige Film «Kebab & Rosoli» entstand 1992 – in Co-Regie mit Elena M. Fischli – als Reaktion auf eine Reihe von gewalttägigen Übergriffen auf Asylsuchende in der Innerschweiz. Der Film, der im Festival Nyon ausgezeichnet wurde, wird bis heute in der Asyldebatte international eingesetzt.
Der Traum vom grossen blauen Wasser
1993 fand der Film «Der Traum vom grossen blauen Wasser, Fragmente und Fundstücke einer Hochtal, Geschichte über den Bau des Sihlsee-Staudamms» seine Vollendung. Er führt Konflikte zwischen agrarischer Bergregion und industrialisiertem Unterland, zwischen Enge und Weite, zwischen Eigenständigkeit und Fremdbestimmung, zwischen ökonomischen und ökologischen Interessen vor Augen. Im gleichen Jahr erhält er den Anerkennungspreis der Innerschweizer Radio- und Fernsehgesellschaft. 1997 feiert «Steinauer Nebraska» seine Premiere. Die Geschichte der drei Einsiedler Brüder Steinauer, die nach Amerika ausgewandert sind, ist ein zyklischer, 150 Jahre umfassender Zirkelschlag von Migration, Siedlung, Vertreibung, Auf- und Abstieg. Die balladeske filmische Schilderung des zähen amerikanischen Pioniergeists kontrastiert Saurer mit «janusgesichtigen» Gegen-Bildern: Was für die damaligen hiesigen «Wirtschaftsflüchtlinge» ein hoffnungsvoller Anfang in der «Neuen Welt» bedeutete, war für die amerikanischen Ureinwohner der Anfang einer Entwicklung von existentieller Gefährdung, Vetreibung und unsagbarer Traurigkeit.
Der letzte Film
Das Fresko eines asiatischen Elefanten am Hotel Elephant in Brixen inspirierte Karl Saurer zum Film «Rajas Reise». Für die Dreharbeiten reiste er mehrmahls nach Indien und arbeitete dort mit einheimischen Filmtechnikern. Es entstand ein wunderbarer Film über europäische Kolonialgeschichte und indische Gegenwart. Auch Saurers letzter Film «Ahimsa – Die Stärke von Gewaltfreiheit» entstand in Indien. Der Film zeigt den jahrelangen gewaltfreien Kampf einer Dorfgemeinschaft von Ureinwohnern im indischen Madhya Pradesh für ihr Recht auf Boden, Wasser und ein menschenwürdiges Leben. 2018 würdigt der Kanton Schwyz das filmische Werk Karl Saurers und verleiht ihm den kantonalen Kulturpreis. Am 12. März 2020 verstarb er unerwartet, ohne den Film über den ebenfalls in Einsiedeln geborenen Arzt und Philosophen Paracelsus vollenden zu können.
(Text: Webseite Karl Saurer)