Im Zentrum stehen vier gegenwartsbezogene Auseinandersetzungen, die sich mit der gebauten Umwelt im städtischen Lebensraum auf unterschiedlichste Weise beschäftigen. Dem urbanen Lebensraum wird mittels verschiedener Medien nachgespürt, in ihrer Präsentation gehen die vier Positionen über das Dokumentarische weit hinaus: Fotografien, installative Objekte, Fundstücke, künstlerische Interventionen und Studien laden das Publikum zum Einfühlen, Nachdenken und Mitdiskutieren ein.
Zentrum Architektur Zürich | Urbane Räume: 4 Perspektiven
- Publiziert am 2. November 2021
Eine Ausstellung will Besucher*innen an aktuelle Fragen der Stadtentwicklung heranführen, auch über die Stadtgrenze von Zürich hinaus
Die Ausstellung wird von einer umfassenden Veranstaltungsreihe begleitet, die aktuelle Fragen um urbane Lebensqualitäten, nachhaltige Verdichtungsprozesse und die Herausforderungen an eine zukunftsfähige, sozialverträgliche Stadtentwicklung in Vorträgen, Diskussionsveranstaltungen und auf Rundgängen «extra muros» aufgreift und vertieft.
Suite – Meret Wandeler (*1967)
Die Fotoserie «Suite» von Meret Wandeler ist zwischen 2014 und 2019 in den äusseren Quartieren von Zürich entstanden. Darin fängt die Zürcher Fotografin und Künstlerin flüchtige Momente der Bewegung einer Betrachterin durch ihren urbanen Lebensraum ein. Sie richtet ihre Kamera auf die in diesen Gegenden charakteristischen Glasfronten der Erdgeschossnutzungen, deren Flächen keine Schaufenster sind, sondern Blicke von aussen mit Jalousien, Vorhängen, Rollos und Beschichtungen abschirmen. Die halbtransparenten und reflektierenden Flächen, in denen sich die Architektur der Stadt auf sich selbst projiziert, werden zum Bildträger der Fotografin. Der Effekt ist visuell überraschend und ästhetisch zugleich: Bildstörungen und Unschärfen schaffen attraktive Spannungsmomente, während sich im Prozess der Wahrnehmung die Grenzen zwischen Nah und Fern und Vorder- und Hintergrund auflösen und überlagern. Das ZAZ Bellerive wird erstmals eine Auswahl von grossformatigen Inkjet-Prints aus «Suite» präsentieren. Die Fotografin und Performance-Künstlerin geht in ihren oft kollaborativ angelegten Arbeiten Fragen der Wahrnehmung von Stadtlandschaften und der Erfahrung von Zeitlichkeit nach. Am Institute for Contemporary Art Research/DFA der Zürcher Hochschule der Künste untersucht sie in der «Fotografischen Langzeitbeobachtung Schlieren» urbane Transformationsprozesse in der Agglomeration. Meret Wandeler lebt und arbeitet in Zürich.
Mapping Delhi – Arbeit, Stadtraum und Erinnerung auf Textil – Studio Otherwolds
Mit «Mapping Delhi – Arbeit, Stadtraum und Erinnerung auf Textil» werden im Medium der Tapisserie die Verbindungen zwischen urbanen Lebenswelten und sozial engagierter Kunst sichtbar gemacht. Das Kunstprojekt von Studio Otherworlds ist in Kapashera entstanden, einem industriellen Randgebiet Delhis. Am Projekt mitgearbeitet hat ein Kollektiv von Arbeitsmigrantinnen, die in der dort ansässigen Textilindustrie unter ausbeuterischen Bedingungen arbeiten und in verdichteten Mietskasernenvierteln leben. Als Mittel zur Aneignung des eigenen Lebensraums geht die kartographische Tapisserie den Geschichten des Ortes und dessen Menschen auf die Spur; gleichzeitig rücken Hintergründe und Fragen zu Migration, Erinnerung, Geschlecht, urbaner Realität und Lebensraum in den Fokus. Darüber hinaus provoziert die Arbeit eine kritische Auseinandersetzung mit dem Konzept von «Fast Fashion» und deren soziologischen sowie räumlichen Auswirkungen. Unter dem Namen Studio Otherworlds realisieren Sumedha Garg und Nitin Bathla sozial engagierte Kunstinterventionen. Nitin Bathla (*1986) ist Architekt, Stadtplaner und Forscher und lebt zwischen Zürich und Delhi. Sumedha Garg (*1986) ist Künstlerin, Designerin und Pädagogin und erforscht die Beziehungen zwischen Ortsgestaltung und Menschen. Sie lebt und unterrichtet derzeit in Indien.
Siedlung Wydäckerring – Taten, Sachen und Fiktionen – 8000.agency
Die Kabinettausstellung des Kollektiv 8000.agency rückt das Verschwinden einer Plattenbausiedlung im Zürcher Triemli-Quartier in den Fokus und verknüpft deren Schicksal mit aktuellen Phänomenen unserer Welt. Die Welle an Ersatzneubauten in Zürich scheint nachvollziehbar: Neubauten bieten einen sicheren Anlagewert, die Nachverdichtung schafft mehr stadtnahen Wohnraum und die Sanierung bestehender Substanz ist herausfordernd — doch die Potenziale, die im Weiterbauen liegen würden, bleiben viel zu oft aussen vor. Hier wird nachgezeichnet, was eine Transformation im konkreten Fall für den urbanen Raum hätte bedeuten können. Dort wo die Siedlung einst stand, klafft heute hinter orangen Platten ein grosses Loch. Was an diesem Ort nicht mehr existiert, findet sich nun in der Ausstellung hinter denselben orangen Platten wieder. Die gezeigten Artefakte sind die einzigen Überbleibsel der Siedlung und werden Teil einer vergangenen Fiktion: originale Bauteile, Fotos von Bewohnenden, Pläne und Dokumente, Zitate und Lieder und erdachte Transformationen. Ein filmischer Spaziergang durch den Wydäckerring im Dezember 2020, kurz vor Beginn der Abrissarbeiten, bindet die verschiedenen immersiv erlebbaren Inhalte in einer Geschichte zusammen. Die Ausstellung zeigt auf, was einmal war, um darauf hinzudeuten, was hätte entstehen können – und womöglich an anderen Orten noch entstehen kann. Das Kollektiv 8000.agency vereinigt die produktive Zusammenarbeit von Lukas Ryffel (*1992), Oliver Burch (*1994) und Jakob Junghanss (*1994). Mit der Begeisterung für die Vielschichtigkeit der Gegenwart bewegt sich ihr Interesse entlang der Produktion von Raum, Informationen und den sich wandelnden Bedeutungen unserer Umwelt.
Nemesis – Thomas Imbach (*1962)
Einst in nur neun Monaten erbaut, hat er dem Quartier Aussersihl und der ganzen Stadt Zürich zu Wachstum und Wohlstand verholfen. Heute ist der Zürcher Güterbahnhof Geschichte: An seiner Stelle erhebt sich nun das hochmoderne Polizei- und Justizzentrums Zürich (PJZ). Über sieben Jahre hinweg hielt der Filmemacher Thomas Imbach Tag für Tag die Veränderungen auf der Baustelle vor seinem Fenster fest. In bildgewaltigen Filmaufnahmen dokumentiert er die ohrenbetäubende Zerstörung, den jahrelangen Stillstand der leergeräumten Brache sowie den Rohbau des bedrückenden Neubaukolosses. In Betroffenheit über das langsame Ende seines langjährigen Nachbargebäudes komponiert Imbach aus dem Abriss eine persönliche Chronik, in der er über die Vergänglichkeit der Zeit nachdenkt. Der Zerstörung hält er in seinem filmischen Werk Leben und Schönheit entgegen. Die Blicke aus dem Atelier, mal mit Zeitraffer beschleunigt, mal mit Zeitdehnung verlangsamt, werden von Klangströmen des Sounddesigners Peter Bräker untermalt. Übersetzt in die räumlichen Gegebenheiten der Villa Bellerive wirft «Nemesis» als filmische Installation gesellschaftliche Fragen zur Stadtentwicklung und zur Auslöschung von (Stadt-) Geschichte auf. Thomas Imbach gehört zu den innovativsten Schweizer Filmemacher*innen mit internationaler Ausstrahlung. Er bewegt sich virtuos zwischen den Genres des Dokumentar- und Spielfilms und scheut keine mutigen Experimente sowohl auf erzählerischer wie formaler Ebene. Zu seinen frühen Erfolgen gehören «Well Done» (1994) und «Ghetto» (1997). Seine Spielfilme «Happiness is a warm gun» (2001), «Lenz» (2006), «I was a Swiss Banker» (2007) sowie die Autofiktion «Day is done» (2011) wurden an der Berlinale uraufgeführt. «Nemesis» (2020) hat zahlreiche Preise im In- und Ausland gewonnen.
Text: Zentrum Architektur Zürich