In der psychiatrischen Klinik Münsterlingen sind hunderte von Zeichnungen archiviert, die in therapeutischen Prozessen entstanden. Die Ausstellung «Kunst oder was?» zeigt eine Auswahl und fragt: Wo liegt die Grenze zwischen Kunst und therapeutischem Material?
Kunstmuseum Thurgau | Kunst oder was?
- Publiziert am 4. September 2015
Aussenseiterkunst
Das Kunstmuseum Thurgau sammelt seit Jahrzehnten Aussenseiterkunst. Ausgangspunkt dieser Sammlungstätigkeit waren die aussergewöhnlichen Bilder des Malers Adolf Dietrich, der als Autodidakt bis heute eine Ausnahmeerscheinung in der Schweizer Kunst geblieben ist. Werke weiterer namhafter Künstler wie André Bauchant, Josef Wittlich oder Hans Krüsi bilden heute eine einzigartige Sammlung, die das Museum europaweit als wichtiges Kompetenzzentrum für Aussenseiterkunst auszeichnet.
Wer bestimmt?
«Aussenseiterkunst» ist indes ein umstrittener und auch missverständlicher Begriff. Oft wird bemängelt, dass die Vorstellung des «Aussenseiters» einen abwertenden Beiklang habe. Und wer bestimmt überhaupt, was ein Aussenseiter ist? Allerdings hat es im letzten Jahrhundert immer wieder Persönlichkeiten gegeben, die ausserhalb von Konventionen und meist ohne jede künstlerische Ausbildung hochgeschätzte Werke schufen. Werke von Henri Rousseau oder Adolf Wölfli werden heute wie selbstverständlich in wichtigen Ausstellungen etablierter Kunst gezeigt.
Schon während des Ersten Weltkrieges
Parallel zur Aufmerksamkeit der Kunstszene für Aussenseiterkunst entwickelten sich in psychiatrischen Kliniken Therapiemethoden, die mit künstlerischen Mitteln arbeiten. Was in der Alltagssprache gemeinhin «Kunsttherapie» genannt wird, erweist sich bei näherem Hinsehen als ein breites Feld verschiedenster Möglichkeiten des Einsatzes bildnerischer Mittel in Therapien, das vom einfachen Malen und Zeichnen bis hin zur umfassenden Gestaltungstherapie mit Musik und Theater reicht – immer mit dem Ziel, Menschen zu helfen. Auch im Kanton Thurgau kamen kunsttherapeutische Methoden früh zu Anwendung. Schon in der berühmten Sammlung Prinzhorn, die kurz nach dem Ersten Weltkrieg zusammengestellt wurde, finden sich Beispiele aus der legendären Kreuzlinger Privatklinik Bellevue der Familie Binswanger. Und im Archiv der psychiatrischen Klinik Münsterlingen liegen tausende von Zeichnungen, Bildern und Objekten, die seit den 1960er Jahren von der vielfältigen Therapiearbeit mit bildnerischen Mitteln zeugen.
Der Grenze nachspüren
Allerdings ist längst nicht jedes Bild, das während einer Therapie entsteht, ein Kunstwerk. Die Ausstellung «Kunst oder was?» erforscht die Beziehung zwischen Kunst und Therapie und fragt danach, ob die Emotionalität, die Menschen in der Psychiatrie oft bestimmt, ausreicht, um aus einer Zeichnung ein Kunstwerk zu machen. Anhand von Bildern und Objekten aus dem bis anhin noch nie gezeigten Archiv von Münsterlingen wird der Grenze zwischen Kunstwerk und therapeutischem Material nachgespürt.
Ausstellung und Publikation entstehen in enger Zusammenarbeit des Kunstmuseums Thurgau mit der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen, die im Jahr 2015 den 175. Jahrestag ihrer Gründung feiert.