Die Künstlerin deckt auf, wie Sprache und Bildwelt kaum wahrnehmbar voneinander abweichen. Kontrolle und Macht sind die Themen ihrer Arbeit, die sich in der technischen, materiellen und ästhetischen Umsetzung ihrer Projekte manifestieren. Nebst einer ihrer jüngsten Arbeiten “Paperwork and the Will of Capital” sind viele andere Serien im Kunstmuseum Luzern zu sehen. Immer wieder spielt sie mit der Form des Archivs und bedient so die Illusion der Ordnung in der chaotischen Natur der Dinge.
Kunstmuseum Luzern | Taryn Simon – Shouting is Under Calling
Taryn Simons Werke sind hochpolitisch und fundiert recherchiert. Nichtsdestotrotz berühren sie den Betrachter auch ästhetisch.
Die Künstlerin
Taryn Simons (*1975) Werk ist das Ergebnis intensiver Recherchen und wird von einem Interesse an Klassifikationssystemen und der prekären Natur des Überlebens geleitet. Als interdisziplinäre Künstlerin, die in den Medien Fotografie, Text, Film, Skulptur und Performance arbeitet, lenkt sie unsere Aufmerksamkeit auf die Randgebiete der Macht, wo Kontrolle, Brüche und die Konturen des Machtkonstrukts sichtbar werden. Sie enthüllt den kaum wahrnehmbaren Raum zwischen Sprache und visueller Welt, ein Raum, in dem verschiedene Wahrheiten und Fantasien entstehen und wo es zu Übersetzung und Desorientierung kommt.
Eingeschriebene Autorität
Die technische, physische und ästhetische Realisierung ihrer Projekte spiegelt häufig die Kontrolle und Autorität, die der eigentliche Gegenstand ihres Werkes sind. Simon, die sich häufig der Form des Archivs bedient, verleiht dem chaotischen und unbestimmten Charakter ihrer Sujets eine Illusion von Ordnung. Für Simon waren Bildmedien schon immer ein Instrument, um umfassendere konzeptionelle Ideen zu formulieren. In Verbindung mit Text enthüllen ihre Werke die Strukturen hinter Kontrollsystemen, wobei die Themenkomplexe von Generationen und Grenzen bis zu Botanik und Diplomatie reichen. Die Grenze zwischen Text und Objekt verschwimmt, und beide verändern einander wechselseitig, wieder und wieder, hin und her.
Werkauswahl
Die in Luzern ausgestellten Werke stammen aus dem Zeitraum von 2008 bis 2017 und umfassen auch ihre jüngste Serie «Paperwork and the Will of Capital» (2015), die zum ersten Mal in der Schweiz zu sehen ist.
Der Titel der Ausstellung «Shouting is under Calling» stammt aus einem Archivdokument, einem Spickzettel, aus der Bildersammlung der New York Public Library. Die von Bibliotheksverwaltern angefertigten Listen helfen häufig angefragte Begriffe besser ermitteln zu können.
«The Picture Collection» entstand als Reaktion auf die Online-Datenbank Image Atlas (2012), die Simon zusammen mit dem Programmierer Aaron Swartz schuf. Image Atlas untersucht kulturelle Unterschiede und Ähnlichkeiten, indem das Werk mittels über die ganze Welt verteilter lokaler Suchmaschinen die erfolgreichsten Bildresultate für bestimmte Suchbegriffe erschliesst.
«Cutaways» (2012) ist sowohl ein Porträt als auch ein Surrogat der Künstlerin selbst. Am Ende eines Video-Interviews im Hauptabendprogramm des russischen Fernsehens wurde Simon gebeten, still sitzen zu bleiben und die Moderatoren mehrere Minuten lang anzuschauen. Man sagte ihr, dies sei gängige Praxis und das Bildmaterial werde anschliessend für die Montage verwendet. Auf diese Weise wird Simon zum Mittelpunkt und Gegenstand eben jener Systeme orchestrierter Autorität, die sie in ihren eigenen Werken untersucht.
Für «Anthem» (2015) produzierte Simon 50 Sätze für Spieluhren, die jeweils eigens angefertigt wurden und die Nationalhymne eines der 50, am Bruttosozialprodukt gemessen, führenden Länder der Erde erklingen lassen. Anthem lässt dröhnende nationalistische Melodien zu etwas Ruhigem und Fragilem werden. Durch das gleichzeitige Kurbeln mehrerer Spieluhren ergeben sich neue Beziehungen und Kakophonien, während die streng hierarchische Anordnung der Spieluhren unverändert bleibt.
«Paperwork and the Will of Capital» (2015) thematisiert die Zeremonie der Unterzeichnung politischer Vereinbarungen, Kontrakte, Verträge und Dekrete, bei denen mächtige Männer florale Tafelaufsätze flankieren, die so arrangiert sind, dass sie die Bedeutung der Unterzeichnenden und der von ihnen repräsentierten Institutionen zur Geltung bringen. Simons Fotografien der nachgestellten Blumenarrangements veranschaulichen, gemeinsam mit den dazugehörigen Geschichten, wie die Bühnenkunst politischer und wirtschaftlicher Macht geschaffen, aufgeführt, vermarktet und aufrechterhalten wird. Ausserdem enthält die Ausstellung einzelne Werke Simons, die vor allem für ihre langfristigen Serienprojekte bekannt ist.