Die Ausstellung im Fotomuseum Winterthur umfasst Fotografien, audiovisuelle Installationen, Zeichnungen der Yanomami und andere Dokumente und basiert auf zweijährigen Recherchen im Archiv von Andujar. Es ist die erste grosse Retrospektive des Werks der in der Schweiz geborenen brasilianischen Fotografin, Aktivistin und Überlebenden des Holocaust.
Fotomuseum Winterthur | Der Überlebenskampf der Yanomami
- Publiziert am 19. Oktober 2021
Seit fünf Jahrzehnten widmet Claudia Andujar ihr Leben dem Kampf für die Rechte der Yanomami, einer der grössten indigenen Gemeinschaften Brasiliens
«In die Zeit, als die brasilianische Militärdiktatur Amazonien zu kolonisieren begann, fallen meine ersten Überlegungen für ein umfassenderes Projekt, das es mir ermöglichen würde, sowohl tiefer in die Yanomami-Kultur einzutauchen als auch Strategien zu ihrer Verteidigung zu entwickeln. Ich hatte gar nicht vor, es zu meinem Lebensprojekt zu machen, aber genau das ist passiert – ich bin immer noch stark involviert und werde es wohl bis an mein Lebensende bleiben.» Claudia Andujar, Fotografin und Aktivistin
Tödliche Krankheiten und Massensterben
Der erste Teil der Ausstellung zeigt die künstlerische Entwicklung Andujars während der 1970er-Jahre, als sie versuchte, ihrer Faszination für die schamanische Kultur der Yanomami durch Fotografie und illustrierte Bücher Ausdruck zu verleihen. Mit Serien von spirituellen Ritualen, einfühlsamen Porträts und einem von Andujar initiierten Projekt mit Yanomami-Zeichnungen vermittelt sie uns ihre Sicht auf die Lebensweise der Gemeinschaft. Zeitgleich beginnt die brasilianische Militärdiktatur, Amazonien zu kolonisieren und seine natürlichen Ressourcen auszubeuten, was zur Verbreitung tödlicher Krankheiten und einem Massensterben der Yanomami führt. Angesichts dieser Katastrophe wird Andujars Arbeit zunehmend aktivistisch.
Politischer Kampf
Der zweite Teil der Ausstellung zeigt, wie Andujar ihre künstlerischen Ambitionen zugunsten des politischen Aktivismus zurückstellte. 1978 gründete Andujar mit einer Gruppe von Aktivist*innen eine NGO, um sich für die Rechte und das Land der Yanomami einzusetzen. In den 1980er-Jahren reiste sie ausserdem mit Davi Kopenawa, einem Schamanen und Sprecher der Yanomami, um die Welt, um international Aufmerksamkeit zu erlangen. Ihr jahrelanger Kampf führte schliesslich zur Demarkierung des Yanomami-Territoriums im Jahr 1992 – ein Erfolg, der durch die aktuelle brasilianische Regierungspolitik abermals in Gefahr ist. Die brasilianische Regierung unterlässt es, die indigenen Gemeinschaften und ihr Land gegen den Bau von illegalen Goldminen, die Abholzung des Regenwaldes und Landraub zu schützen. Zusätzlich sind die Yanomami akut durch COVID-19 bedroht, gegen das sich die Gemeinschaft in der internationalen Kampagne #MinersOutCovidOut engagiert. Die Ausstellung rückt somit die humanitären und ökologischen Krisen in den Fokus, die durch die Pandemie weiter verschärft werden.
Über die Fotografin
Claudine Haas wird am 12. Juni 1931 in Neuenburg in der Schweiz als einzige Tochter von Germaine Guye, einer Schweizer Protestantin, und Siegfried Haas, einem ungarischen Juden, geboren. Sie wächst in Nordsiebenbürgen auf und lebt nach der Trennung ihrer Eltern bei ihrem Vater. Nach der deutschen Besetzung Siebenbürgens werden ihr Vater und ein Grossteil seiner Familie nach Auschwitz und Dachau deportiert, wo alle ums Leben kommen. Claudine flieht mit ihrer Mutter in die Schweiz und siedelt wenig später nach New York über, wo sie den Namen Claudia annimmt. Sie heiratet den Spanier Julio Andujar, lässt sich kurz darauf scheiden, behält allerdings seinen Nachnamen, um ihre jüdische Herkunft zu verbergen. Mitte der 1950er-Jahre verlässt Andujar New York und zieht zu ihrer Mutter nach Brasilien. Sie lässt sich in São Paulo nieder, wo sie bis heute lebt, und beginnt sich für die Fotografie zu interessieren. In den frühen 1970er-Jahren unternimmt sie mithilfe eines John-Simon-Guggenheim Stipendiums die erste von vielen Reisen in das Catrimani-Flussbecken im nördlichen brasilianischen Amazonasgebiet, wo der Grossteil ihrer fotografischen Arbeit über und mit den Yanomami entsteht. Mitte der 1970er-Jahre beginnt sie sich für die Rechte der Yanomami einzusetzen, deren Lebensraum unter anderem durch den Bau einer Bundesstrasse, den Bergbau aber auch Epidemien bedroht wird.
1977 muss Andujar das Gebiet der Yanomami aufgrund eines Regierungsentscheids verlassen und gründet in der Folge in São Paulo die NGO Comissão Pró-Yanomami (CCPY), welche sich dem Schutz des Lebensraums, der Kultur und der Menschenrechte der Yanomami widmet. Ein Jahr später erhält sie schliesslich die Genehmigung, in das Gebiet der Yanomami zurückzukehren, wo sie im Rahmen unterschiedlichster Projekte über Jahrzehnte auf die andauernden Herausforderungen der Yanomami aufmerksam macht – als politische Aktivistin und mithilfe ihrer zahlreichen Fotografien und ihres Archivs.