Johannes Robert Schürch gilt als ein Hauptvertreter der frühen Moderne in der Schweizer Kunst. Getrieben von den existenziellen und universellen Themen des Menschseins, schuf er Hunderte von lavierten Tuschzeichnungen und expressiven Aquarellen, die heute zu den Höhepunkten seines Werks zählen. Die Ausstellung «Alles sehen» rückt einen herausragenden, aber in Vergessenheit geratenen Zeichner wieder ins Bewusstsein der Gegenwart.
Das Aargauer Kunsthaus entdeckt Johannes Robert Schürch neu
Zur Ausstellung erscheint eine umfangreiche, reich bebilderte Publikation im Verlag Scheidegger & Spiess. Die Essays beleuchten das Werk Schürchs aus kunsthistorischer, kulturwissenschaftlicher und philosophischer Perspektive und schlagen eine Brücke zur Astrologie. Sie gewähren Einblick in Themen, die Schürchs Weltsicht, Denken und Handeln beeinflusst haben. Erstmals werden Auszüge aus Schürchs Skizzenbüchern publiziert, begleitet von Passagen aus der umfangreichen Korrespondenz mit seinem Jugendfreund Walter Kern. Neue Gedichte der Schweizer Schriftstellerin Simone Lappert zu ausgewählten Werken verleihen Schürchs Kunst ein lyrisches Echo im Hier und Jetzt.
Schürchs umfrangreiches Œuvre
Der in Aarau geborene Künstler Johannes Robert Schürch hat Meisterwerke der frühen Moderne geschaffen. Umso erstaunlicher ist es, dass sein Œuvre heute einem breiteren Publikum kaum bekannt ist. Gut 50 Jahre nach der Retrospektive im Aargauer Kunsthaus, wo Arbeiten des Künstlers früh angekauft wurden und heute zum Schwerpunkt der grafischen Sammlung zählen, rückt die Ausstellung «Alles sehen» das berührende und eindringliche Werk eines herausragenden Zeichners erneut in den Fokus. Viele der rund 130 gezeigten Papierarbeiten waren jahrzehntelang in Sammlungen verborgen und werden nun zusammen mit bisher unveröffentlichten Skizzenbüchern erstmals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Zu Wort kommt auch Erica Ebinger-Leutwyler, Schürchs Lebensgefährtin bis zu seinem Tod, die das vom Fiskus als wertlos eingestufte Werk vor der Vernichtung bewahrte. Bei seinem Tod im Alter von nur 46 Jahren hinterliess der weitgehend autodidaktische Künstler, der früh von Ferdinand Hodler gefördert wurde, ein umfangreiches und stilistisch vielfältiges Œuvre von über 7000 Werken. Es umfasst neben Ölgemälden, Pastellen und Gouachen eine kaum überschaubare Anzahl kleinformatiger lavierter Feder- und Tuschpinselzeichnungen sowie Aquarelle. Die Einzelausstellung im Aargauer Kunsthaus widmet sich dem zeichnerischen Werk der 1920er- und frühen 1930er-Jahre und gibt damit Einblick in Schürchs produktivste Schaffensperiode. Die farblich zurückhaltenden Tuschzeichnungen und die expressiven Aquarelle zählen zum Höhepunkt seines Œuvres.
Existenziell und universell
Schürch schuf sie geradezu obsessiv zwischen 1922 und 1932, als er fern der Gesellschaft mit seiner Mutter in einem abgelegenen Waldhaus im Tessin in Armut lebte. Hier löste er sich vom Vokabular seiner Vorbilder wie Ferdinand Hodler, Pablo Picasso oder Paul Cézanne und gestaltete Blätter, in denen er Gesehenes und Erlebtes mit seinen inneren Bildern, Ängsten und Visionen verband. So schrieb er 1924 seinem Freund Walter Kern: «meine jetzigen Zeichg. sind sehr gut und übertreffen vielleicht alles was ich schon gemacht habe, sie sind auf jeden Fall Eigengewächs. es sind Blumen des Satans aber ich ringe auf Tod und Leben um was? (um mich).» Schonungslos und einfühlsam thematisieren Schürchs Werke existenzielle und universelle Themen des Menschseins: Tod und Trauer, Unterdrückung sowie die Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Liebe. Als Schauplätze wählte er städtische Randgebiete, fantastische (Traum-)Landschaften oder zeittypische Szenerien wie Wirtshäuser, Bordelle oder die Welt des Zirkus. Die spontanen und teils sehr skizzenhaft ausgeführten Blätter zeigen Schürchs eigenständigen künstlerischen Beitrag auf dem Gebiet der Zeichnung in der Schweizer Moderne. Seinen Zeitgenossen blieben sie weitgehend unbekannt, da seine expressive Ausdrucksweise nicht dem damaligen Zeitgeschmack entsprach.
Alles sehen
Schürch, so der Künstler Dieter Roth, war ein Mensch, der alles sehen wollte. Er war zeitlebens ein Suchender und Fragender, der alles Unnötige abstreifen wollte, um zum Wesentlichen vordringen. 28-jährig schrieb er Walter Kern: «Ich will nur die Tatsache verstehst du so wie die Sache ist schonungslos schamlos die Wahrheit wenn du willst.» Sehen bedeutete für ihn hinzuschauen, «ohne das Schreckliche wegzuträumen». Die Radikalität und Intensität, mit der er die Verletzlichkeit der menschlichen Existenz zeichnerisch übersetzte, erzeugt eine Resonanz in unserer Gegenwart, die in den letzten Jahren an Sicherheit verloren hat. Die Ausstellung Alles sehen lädt dazu ein, einen grossen Schweizer Künstler der 1920er- und 1930er-Jahre neu zu entdecken und sich mit seiner eindringlichen Befragung der conditio humana im Heute auseinanderzusetzen.
(Textgrundlage: Aargauer Kunsthaus)