Konstantin Bojanov erzählt von einer Liebe, die durch eine männlich geprägte Gesellschaft behindert wird, in der der Körper der Frau nur eine Ware ist. Sein erzählerisches Interesse gilt der unerbittlichen Suche nach Freiheit. Dabei gibt der bulgarische Regisseur und Drehbuchautor einen atemberaubenden Einblick in eine grausame Welt, die durch die Liebe zweier Seelen, die an ihr Schicksal gekettet sind, letztendlich erschüttert wird.
THE SHAMELESS
THE SHAMELESS | SYNOPSIS
Mitten in der Nacht flieht Renuka aus einem Bordell in Delhi, nachdem sie einen Polizisten erstochen hat.
Sie flüchtet in eine Gemeinschaft von Prostituierten in Nordindien, wo sie Devika, ein zur Prostitution verurteiltes Mädchen, kennenlernt. Ihre Verbindung entwickelt sich zu einer verbotenen Romanze. Gemeinsam begeben sie sich auf eine gefährliche Reise, um dem Gesetz zu entkommen … und sich ihren eigenen Weg in die Freiheit zu bahnen.
Rezension
Von Madeleine Hirsiger
Es ist ein Drama erster Güte, das uns der bulgarische Regisseur Konstantin Bojanov vorführt: Der Zwang von jungen Frauen zur Prostitution in armen Ländern, die meistens Geld für ihre Familie anschaffen müssen. So erging es schon ihren Müttern und Grossmüttern. Sie bleiben in diesem Teufelskreis gefangen, werden nicht respektiert, werden «Huren» und «Nutten» beschimpft, sind absolut nichts wert und haben keine Chance auf ein normales Leben. Den Preis, den sie bezahlen, ist hoch, der höchste ist der Tod.
Ranuka, die Unbeugsame
Wir folgen den Spuren der 30-jährigen Renuka, die in Delhi einen Polizeikommissar ermordet hat und nun auf der Flucht in den indischen Norden ist, in ländliches Gebiet. Auch dort bleibt ihr nichts anderes übrig, als ihren Körper anzubieten. Es sind schäbige, fensterlose Zimmer, in denen sie ihrem Geschäft nachgeht, mit herrischen Freiern oder armen Schluckern. Das Geld sammelt sie, das sie auch immer wieder für Drogen braucht, um sich bald mal aus dem Staub zu machen. Die Polizei ist ihr auf den Fersen. Da lernt sie die junge, wunderschöne Devika kennen, die mit der Grossmutter, Mutter und zwei Geschwistern wohnt. Eine Schwester macht sich bald nach Delhi auf, auch sie schon in der Prostitution, aber dort würde man von den Männern besser behandelt, hatte ihr die Grossmutter erzählt. Natürlich ein Märchen.
Eine schicksalshafte Beziehung
Renuka ist sehr von Devika angetan. Die beiden kommen sich näher, es entwickelt sich eine enge Freundschaft und auch noch mehr? Die Mutter macht alles, um Devika von ihrer älteren Freundin fernzuhalten. Devika wird von ihrer Mutter immer wieder erniedrigt und mit Hausarrest versehen. Ohne grossen Erfolg. Und Devika ihrerseits tut alles, um nicht mit Männern in Kontakt zu kommen, die sie von Grund auf hasst. Sie schneidet ihre wunderschönen Haare ab, die zu Zöpfen geflochten waren. Denn sie weiss, was ihr blühen könnte. Und es blüht ihr trotzdem: Ihre Mutter verkauft sie an einen hohen Politiker, der ein Vermögen bezahlt, um der erste zu sein. Devika wird für dieses verabscheuungswürdige «Ritual» schön eingekleidet wie eine Braut. Doch sie wehrt sich verzweifelt, schreit unaufhörlich, durchdringend, hilfesuchend. Es nützt ihr nichts: Die Mutter dreht am Fernsehen den Ton auf, um möglichst nichts zu hören. Sie sei ja weiss Gott nicht die erste, die das durchgemacht hätte, meint die Mutter, während die Grossmutter schmerzlindernde Arzneien für ihre Nichte bereitstellt. All das kommt Renuka, die zwischenzeitliche nach Delhi reist, um sich Papiere zu beschaffen, zu Ohren. Sie kommt zurück und will Rache üben. In THE SHAMELESS geht es auch darum aufzuzeigen, wie Frauen in einer Gesellschaft aufwachsen, die ihnen keine andere Wahl lässt. Es ist die Arbeit des Basler Kameramanns Gabriel Lobos (ROTZLOCH, LE FILS DU CHASSEUR), dem es eindringlich gelingt, diese dunkle Geschichte in adäquaten Bildern zu erzählen.
Fazit: THE SHAMELESS ist ein aufwühlendes Dokument über das Schicksal vieler Frauen in einer Zeit, die als aufgeklärt gilt. Dieser Film, an dem auch die Schweiz beteiligt ist, hat an mehreren Festivals das Publikum beeindruckt. Und die indische Schauspielerin Anasuya Sengupta als Renuka wurde in Cannes in der Sektion «Un certain regard» als beste Schauspielerin ausgezeichnet.