«Menschenskind!» handelt von einem anspruchsvollen Weg: Er zeigt die Geschichte von Marina Belobrovaja, der Regisseurin selbst, die ein dringliches Bedürfnis verspürt, ein Kind zu bekommen. Um ihren Wunsch Wirklichkeit werden zu lassen, sucht sie nach einem Samenspender, den sie später in einem anonymen Hotelzimmer trifft. Ist es an der Zeit, das Konzept der Kleinfamilie als die einzig adäquate Form der Elternschaft zu verabschieden?
Menschenskind!
Rezension
Die in Zürich lebende Filmemacherin Marina Belobrovaja filmt sich mit ihrem Handy: Sie liegt im Bett und telefoniert mit ihrer Oma in Israel. «Ist es schon passiert?» Fragt die Oma. «Nein», lacht Marina. «Ich rufe Mama an, wenn ich fertig bin.» So beginnt ein packender, tiefsinniger und aufschlussreicher Dokumentarfilm über das Kinderkriegen und ihre ‹Samenlieferanten›. Im richtigen Moment hat Marina mit einem Spender Sex. Es ist keine anonyme Begegnung, sie weiss, wer er ist. Entsprungen ist Nelly, das «Menschenskind!». Es wird sich herausstellen, dass der Spender, der Leben schenken will und am liebsten nie sterben möchte, in einem Safe alle Infos über die Mütter aufbewahrt. Er war über 60 Mal erfolgreich! «Das sind ja Kinder von der Stange», stellt konsterniert ein Lesbenpaar fest, das auch einem freudigen Ereignis entgegenfiebert: Sven, ebenfalls durch Samenspende entstanden, tut sich als 40-jähriger schwer mit der Tatsache, seinen Vater wohl nie zu finden. Selbst Vater eines Sohnes und getrennt von seiner Frau, hat er mit einer der beiden lesbischen Frauen ein Kind gezeugt. Ein bewusster Akt. Denn ein Kind muss einen Vater haben, auch wenn er nicht enger Teil der Familie sein wird. Eine emotionale und soziale Komponente seitens des Mannes ist für ihn unabdingbar.
Und das ist das zentrale Thema des Films: Wie geht es Kindern, die einmal nach dem Vater fragen und keine Antwort bekommen können? Wie kann die Sehnsucht nach der andern Hälfte einer Elternschaft gestillt werden? Wie geht man mit Ethik und Moral um? Marina geht all diese Fragen mit grosser Offenheit an. Und das ist eine Bereicherung. In Israel, wo ihre Familie wohnt und ursprünglich aus Kiew stammt, wird das Kinderkriegen stark gefördert und es spielt keine Rolle, wie und von wem ein Kind gezeugt wird. Hauptsache, es werden Kinder geboren. Eine politische Komponente. Marina Belobrovaja, die verschiedene erfolglose Beziehungen hatte, wollte sich den Kinderwunsch unbedingt erfüllen. Alleine. Durch ihre filmische Arbeit ist sie mit den unterschiedlichsten Haltungen und Meinungen konfrontiert worden, auch mit dem Satz: «Es gibt kein Recht auf ein Kind». Das hat sie beschäftigt und es ist klar, dass es keine schlüssigen Antworten auf diese komplexen Fragen gibt. Marina lässt uns teilhaben an dieser Palette familiärer Strukturen, die in unserer heutigen Welt möglich sind. Ganz nach dem Motto: Alles ist möglich, aber nicht unbedingt einfach. «Menschenskind!» ist ein Feuerwerk von Emotionen und Unerwartetem.
Madeleine Hirsiger, arttv.ch
Zum Film
Ist Elternschaft die einzig logische Fortsetzung eines jeden Lebens? Hat das traditionelle Konzept der Kleinfamilie ausgedient? Die Filmemacherin Marina Belobrovaja hat einen Weg gewählt, über den viele Frauen in einer vergleichbaren Situation nachdenken, ihn aber doch nicht gehen. In «Menschenskind!» setzt sie sich, ausgehend von der Zeugungsgeschichte ihrer Tochter mit Hilfe eines Samenspenders, mit den bestehenden gesellschaftlichen Vorstellungen, Rollenmustern und Konventionen rund um Elternschaft und Familie auseinander.
Stimmen
«Ich hätte noch eine Stunde weiterschauen können.» – Markus Tschannen, Mamablog | «Eine radikal intime Auseinandersetzung mit dem Thema «Samenspende», die auch den schmerzhaften Zweifeln/Ambivalenzen nicht ausweicht. Viele Grautöne statt plumpes Schwarz-Weiss.» – Claudia Senn, annabelle
Marina Belobrovaja über ihren Film
Meine Geschichte ist keineswegs einzigartig. Im Gegenteil, ich habe einfach das durchgezogen, worüber viele in vergleichbarer Situation nachdenken, es aber nicht tun, beispielsweise aus Angst, ihren Kindern kein angemessenes Leben bieten zu können oder aus der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen zu werden. Doch wenn kinderlose Paare heute immer öfter Hilfe der Samenbanken beanspruchen, deren Zugänglichkeit für lesbische Paare vor einigen Monaten endlich auch in der Schweiz Realität geworden ist; wenn sich immer mehr Familien mit zwei Müttern oder Vätern zu ihrer Lebensform bekennen und wir vermehrt über die Leihmutterschaft diskutieren, die zwar noch nicht in der eidgenössischen Gesetzgebung, aber schon längst in der Schweizer Wirklichkeit angekommen ist, dann ist es an der Zeit, das Konzept der Kleinfamilie als die einzig adäquate Form der Elternschaft zu verabschieden. Denn unabhängig davon, welchen Lebensentwurf jede*r von uns für sich beansprucht, sind sie alle Teil einer vielfältigen Wirklichkeit und sollen daher offen und legal gelebt werden können.
Dass meine und unsere Geschichte nicht veränderbar ist, ist eine Tatsache. Nicht zuletzt deswegen besteht das Anliegen dieses Films in einer aufmerksamen Reflexion der vielen Fragen und Widersprüche, die sich sowohl in Hinblick auf meine Entscheidung, auf diese Weise Mutter zu werden, als auch im Zusammenhang mit dem Entschluss, unsere Geschichte filmisch zu verarbeiten, stellen. Wenn ich mich heute frage, was meine Tochter in absehbarer Zukunft von ihrer Herkunft, aber auch von diesem Film halten wird, kann ich das nur soweit beantworten, dass ich als Mutter dem Alter und der Reife meiner Tochter entsprechend offen mit unserer Familiengeschichte umgehe und dass ich als Filmemacherin diesen Film nicht zuletzt auch deswegen machen musste, um meiner Verantwortung ihr gegenüber gerecht zu werden.
Marina Belobrovaja