Vor zwei Jahren präsentierte das Festival die thematische Reihe «#letSEXplore». Auch wenn es dieses Jahr nicht so eindeutig deklariert war, man hatte dennoch den Eindruck, es gehe in jedem zweiten Spielfilm um das Eine. Geri Krebs konzentriert sich in seiner Manöverkritik auf eine kleine durchaus willkürliche Auswahl von grotesken, peinlichen, verstörenden, aber auch sinnlichen oder im wörtlichen Sinn berührenden Szenen aus Filmen, in denen es zur Sache geht. Einmal explizit einmal weniger …
Manöverkritik Zurich Film Festival 2023
- Publiziert am 10. Oktober 2023
Von Geri Krebs
Erstmal zu den Gewinnerfilmen
Die Welt spinnt – und das in einem Ausmass wie schon lange nicht mehr. Vielleicht ist es kein Zufall, dass von drei Hauptpreisen am diesjährigen ZFF zwei an Dokumentarfilme gehen, die diesen Befund eindrücklich belegen. Der eine, IN THE REARVIEW von Maciek Hamela, zeigt die Auswirkungen des Ukraine Krieges, der seit über eineinhalb Jahren in Europa tobt und bei uns zuweilen schon fast in Vergessenheit zu geraten droht – der andere, HOLLYWOODGATE, vermittelt nie gesehene Einblicke in jenes Land, wo seit dem 31. August 2021 fundamentalistische Wahnsinnige an der Macht sind. Dass dieser atemberaubende Film, für den sein Regisseur, der in Berlin lebende Ägypter Ibrahim Nash’at, sein Leben riskierte, just an dem Tag prämiert wurde, an dem an einem anderen Ort auf der Welt wahnsinnige Fundamentalisten einen neuen Krieg entfesselten, mutet wie eine makabere Pointe an. Im Gegensatz zu so viel Zerstörung, Leid und Schrecken fiel auf, dass es in zahlreichen Spielfilmen der diversen Sektionen des Festivalprogramms um intime Momente und persönliche Beziehungen ging und dass dabei fleissig der schönsten (Neben-)Sache der Welt gefrönt wurde.
Blaue Pillen und ein Wort mit drei Buchstaben
Will man tief unten anfangen, so hat ein einstiger Grossmeister des Weltkinos in diesem Bereich die Messlatte verloren: Roman Polański, dessen neuer Film THE PALACE ja bereits die Negativhitparade anführt. Wenn in dem opulent ausgestatteten Werk eine der Figuren, der von John Cleese verkörperte greise texanische Milliardär, nach Einwurf zweier blauer Pillen mit seiner 22-jährigen, übergewichtigen Gattin zu Gange ist und auf dem Höhepunkt des Geschehens den endgültigen Abgang macht, worauf die Angetraute vor Schreck einen Vaginalkrampf kriegt und damit dem Toten im wörtlichen Sinn verbunden bleibt, dann wähnt man sich eher am bunten Abend eines Pfadilagers als im Film eines Meisterregisseurs. Aber dass nicht nur ein Neunzigjähriger, sondern auch der cineastische Nachwuchs auf dem Gebiet körperlicher Begegnungen Peinliches zu vollbringen imstande ist, bewies der Spielfilm HOW TO HAVE SEX. Der jungen Britin Molly Manning Walker ist nichts weniger – aber auch nicht mehr – gelungen als eine feministisch angehauchte Version von BALLERMANN, EIS AM STIEL oder HANGOVER. Das Lustigste war hier noch die Tatsache, dass keine einzige andere Pressevorführung auch nur einen annähernd so grossen Aufmarsch an Akkreditierten verzeichnete wie dieser filmische Sauf-, Kotz- und Rammelreigen. Und auch die Publikumsvorführungen waren ausverkauft – das eine kleine Wort im Filmtitel macht es.
Unfreiwillig komisch
Einen Preis für die ungelenkigsten, hölzern wirkenden Sex-Szenen hätte dagegen ein anderer Wettbewerbsfilm verdient: LAISSEZ-MOI des jungen Westschweizers Maxime Rappaz. Die gut gemeinte Geschichte von der alleinstehenden Mutter eines schwerbehinderten Sohnes, die jeweils einen Nachmittag pro Woche in ein nahes Berghotel fährt, um dort diskret etwas zwischen Romanze und Prostitution zu verrichten, ist voll von unfreiwilliger Komik. Etwa dann, wenn die Dame beim dritten Kunden etwas lauter stöhnt als bei den vorherigen und das dann Leidenschaft und in der Folge unbändiges Verlangen suggerieren soll. Es sind Szenen, die eher wirken, als mühten sich da zwei Greise miteinander ab – dabei ist das Darsteller:innenpaar, Jeanne Balibar und Thomas Sarbacher, aber erst in den Fünfzigern. Wie HOW TO HAVE SEX hatte auch LAISSEZ-MOI seine Weltpremieren im vergangenen Mai in Cannes. Womit der Verdacht erhärtet wird, dass das wichtigstes Filmfestival der Welt auch nicht immer die besten Filme zeigt.
Es geht auch sinnlich
Dass intime körperliche Begegnungen im Kino sinnlich und berührend im umfassendsten Sinne sein können, bewiesen zwei Filme, in denen das Begehren vielleicht nicht zufällig keinen Halt vor Geschlechtergrenzen machte: Während in VISIONS von Yann Gozlan die von Diane Kruger glaubwürdig verkörperte toughe Pilotin, sich einer geheimnisvollen Kollegin hingibt und so zwangsläufig ihre Ehe zu einem etwas streng dreinblickenden Arzt (Mathieu Kassovitz) gefährdet, entdeckt in PASSAGES von Ira Sachs die – von Franz Rogowski gespielte – schwule Hauptperson in der Begegnung mit der Lehrerin Agathe, dass «es» auch mit einer Frau schön sein kann. Und wenn diese von der stets bezaubernden Adèle Exarchopoulos gespielt wird, kann man(n) das nur allzu gut nachfühlen.
Zwischen noch nie gesehen und wahrem Leben
Mit dem Venedig-Gewinner POOR THINGS von Yorgos Lanthimos, einem absolut verrückten Werk, das bewies, dass es immer noch unerzählte Geschichten gibt, und der eher konventionellen Liebeskomödie SIMPLE COMME SYLVAIN von Monia Chokri gab es innerhalb der Sektion «Gala Premieren» zwei weitere Filme, in denen es vor Sinnlichkeit nur so knisterte. Hier schaute man den fleissig aneinander Gefallen findenden Körpern gerne zu, ohne sich dabei auch nur einen Moment lang zu langweilen. Und wie unschuldig-verspielt eine aufkeimende Liebe zwischen zwei jungen Menschen filmisch vermittelt werden kann, das bewies schliesslich der dramatische Thriller PERDIDOS EN LA NOCHE des mexikanischen Regisseurs Amat Escalante. In diesem Film aus der Sektion «Special Screenigs» finden zwei Teenager zueinander, verlieren sich, kommen wieder zusammen – alles mit einer beiläufigen Selbstverständlichkeit, die einem das Gefühl vermittelte, hier schaue man nichts weniger als dem Leben zu.
Kinostart: HOW TO Habe SEX, LAISSEZ-MOI, POOR THINGS, SIMPLE COMME SYLVAIN und PERDIDOS EN LA NOCHE kommen in den nächsten Monaten in die Schweizer Kinos, die andern erwähnten Filme haben in der Schweiz – noch – keinen Kinoverleih.