Das 77. Locarno Film Festival wird in Erinnerung bleiben als eines, das dem internationalen Kunstkino – zugegebenermassen gefühlt – mehr Raum gibt und sich an ein cinephiles Publikum richtet. Daneben gab es aber auch ein paar Gänsehautmomente auf der Piazza Grande und eine neue Präsidentin, die man nur selten sah. Eine Manöverkritik von Geri Krebs.
Manöverkritik Locarno Film Festival 2024
- Publiziert am 20. August 2024
AKIPLESA (Toxic) von Saulé Bliuvaité
Ein wahrer Preissegen ergoss sich über zwei Filmen aus einem europäischen Land, das bezüglich Bevölkerungszahl ein Zwerg und filmisch noch kaum in Erscheinung getreten ist. Die Rede ist von Litauen, dem mit zweieinhalb Millionen Einwohner:innen grössten der drei baltischen Staaten. Die junge litauische Regisseurin Saulé Bliuvaité erhielt für AKIPLESA (Toxic) neben dem Goldenen Leoparden gleich noch Preise von drei weiteren Jurys: den der ökumenischen Jury, der First Feature Jury und der Juniorjury. Das Drama stellt zwei Mädchen in den Mittelpunkt, die trotz ihrer Aussenseiterrolle von einer Modelkarriere träumen. Der andere Film aus Litauen SESES (Drowning Dry), ein düsteres, verschachtelt erzähltes Familiendrama des Regisseurs Laurynas Bareisa, erhielt den Preis für beste Regie und für beste schauspielerische Leistung.
Ein anstrengender Wettbewerb
Während es sich bei AKIPLESA um ein konventionelles Stück Erzählkino handelt, das inhaltlich den Eindruck hinterlässt, in der bevölkerungsreichsten baltischen Republik herrsche auch nach 20 Jahren EU-Mitgliedschaft postsozialistische Tristesse, ist SESES ein anstrengender 88-minütiger Parcours durch ständig wechselnde Zeitebenen. Der Film strapaziert die Geduld des Publikums, indem er den berühmten Satz von Jean-Luc Godard allzu wörtlich nimmt: Ein Film hat einen Anfang, eine Mitte und ein Ende – aber nicht zwingend in dieser Reihenfolge. Verglichen mit anderen angestrengten Kunstfilmen des Wettbewerbs gehörte SESES aber noch zu den «einfacheren» Beiträgen. So konnte man sich etwa bei LUCE des italienischen Regieduos Silvia Luzi und Luca Bellino oder bei YENI SAFAK SOLARKEN (New Dawn Fades) des türkischen Regisseurs Gürcan Keltek schlicht nur noch fragen, was das eigentlich soll. Man kann da nur die Weisheit der insgesamt acht Jurys loben, dass keine von ihnen einen dieser Filme auch nur für erwähnenswert hielt. Gleiches gilt auch für den bereits im Vorfeld mit viel medialer Aufmerksamkeit bedachten Kunstfilm BOGANCLOCH des britischen Regisseurs und Videokünstlers Ben Rivers.
Kuriose Begegungen
Während knapp eineinhalb Stunden sieht man einem älteren Eremiten mit Rauschebart in der schottischen Einöde zu, die dem Film den Titel gegeben hat. Mal spaziert der Mann durch die Gegend, mal ist er vor seiner Behausung am Holz hacken, mal nimmt er ein Bad. Immerhin bescherte die Weltpremiere des Films einen der kuriosesten Momente des ganzen Festivals: Es war am frühen Nachmittag des zweiten Festivaltages im Casino Kursaal, als wenige Minuten nach Beginn der Pressevorführung von BOGANCLOCH Festivalpräsidentin Maja Hoffman, begleitet von zwei Bodyguards, in den dunklen Saal geführt und in einer der vordersten Reihen am Rand platziert wurde. Dies, damit sie dann kurz vor Ende der Projektion den Saal erneut auch wieder verlassen konnte – auf dass ja niemand aus der in dem Moment besonders grossen Schar von Journalist:innen auf die Idee kommen sollte, sie nach dem Film anzusprechen. Die Präsenz von Maja Hofmann war nur von wenigen bemerkt worden. Man darf gespannt sein, in welche Richtung die neue Präsidentin Locarno künftig lenkt. Was den Film betraf, herrschte eine so feierliche Stille, als ob man einem Gottesdienst beiwohnte. Die Resonanz mancher Medien in den folgenden Tagen gab dem Schreibenden das Gefühl, ein Banause zu sein, da er dieses Werk nicht als Offenbarung empfand, sondern vor allem eines: langfädig und zäh.
Der Schlaf des Fleissigen
Was im Übrigen auch für einige Filme der Cineasti del presente galt. Stellvertretend hier ein bezeichnender Moment bei der Vorführung eines der Filme dieser Sektion. Der Film heisst KADA JE ZAZVONIO TELEFON (When the Phone Rang) und die Regisseurin, die Serbin Iva Radivojević, versucht hier Erinnerungen an den Ausbruch des Krieges im zerfallenden Jugoslawien zu verarbeiten. Dabei spielt ein wiederkehrender mysteriöser Telefonanruf eine wichtige Rolle. Der Schreibende sass bei der Pressevorführung des Films neben einem Kollegen, der bewundernswert fleissig jeden Wettbewerbsbeitrag visioniert und möglichst auch rezensiert. Als der Schreibende nach etwa der Hälfte des Films wiederholt nervös auf die Uhr blickte, wagte er einen Blick auf seinen Nachbarn und bemerkte, dass dieser schlief, wohl ganz einem anderen Godard-Zitat folgend: Wer im Kino einschläft, beweist, dass er dem Film vertraut.
Schweizer Filme in Locarno
Was die Schweizer Filme in den diversen Sektionen betraf, so war in diesem Jahr eher die rekordhohe Anzahl beachtlich, als dass es Herausragendes zu entdecken gab. So litten sowohl die Schweizer Piazza-Premiere, ELECTRIC CHILD von Simon Jaquemet, wie auch der einheimische Film im Hauptwettbewerb, DER SPATZ IM KAMIN der Gebrüder Zürcher an ihrer Überambitioniertheit, ihrem Anspruch, etwas ganz Grosses sein zu wollen. Bei Jaquemet führte das dazu, dass man das Interesse an den Figuren verlor, während man sich bei den Gebrüdern Zürcher die Einfachheit und die klare Struktur zurückwünschte, welche die ersten ihrer zwei «Familiengeschichten mit Tieren» (DAS MERKWÜRDIGE KÄTZCHEN und DAS MÄDCHEN UND DIE SPINNE) gekennzeichnet hatten. Bezeichnenderweise war DER SPATZ IM KAMIN denn auch keiner der Jurys auch nur eine Erwähnung wert – und bei der Projektion von ELECTRIC CHILD war der Applaus am Ende so dürftig, wie bei kaum einem anderen Piazza-Film ever. Sowohl Publikum wie Jury begeisterte hingegen WIR ERBEN von Simon Baumann, der in der Sektion Semaine de la Critique den Hauptpreis gewann. Dabei steht Baumanns Film ganz in der Tradition des politischen Schweizer Dokumentarfilms: Solide Präzision wie die alten Uhrmacher, sich geschickt um soziale wie existenzielle Fragen bemühend und mit sympathischen Protagonist:innen, die einem im Verlauf von knapp zwei Filmstunden ans Herz wachsen. Und das, obwohl Ruedi Baumann, Vater des Regisseurs Simon Baumann und ehemaliges Urgestein der Grünen in der Schweizer Politik, einem mit seiner Selbstgefälligkeit in gewissen Momenten auch mal nerven kann.
«Blown away»
Doch es gab dieses Jahr – neben einem wenig packenden Wettbewerb – durchaus auch grossartige Momente in Locarno. So etwa auf der Piazza, als der indische Superstar Shah Rukh Khan mit seiner Rede – ja nur schon mit seiner schieren Präsenz – Begeisterungsstürme auslöste, wie man sie in Locarno schon lange nicht mehr erlebt hatte. Oder dann auch als Tags darauf der iranische Regisseur Mohammad Rasoulof sein überwältigendes Werk, den in Cannes mit dem Jurypreis ausgezeichneten Politthriller THE SEED OF THE SACRED FIG vorstellte. Schliesslich war es dann am zweitletzten Festivalabend die Neuseeländerin Jane Campion – erste Frau, die vor 31 Jahren in Cannes eine Goldene Palme erhalten hatte für ihren monumentalen Kostümfilm THE PIANO – die Festivaldirektor Giona A. Nazzaro in einer selten emotionalen Verfassung zeigte. Dies, als er in seiner kurzen Laudatio erklärte, wie «blown away» er gewesen sei, als er damals THE PIANO zum ersten Mal gesehen habe – eine Bewegtheit, die sich an diesem zweitletzten Festivalabend durchaus auch aufs Piazza-Publikum übertrug. Man hätte sich gerne noch mehr derartige Momente an einem insgesamt durchwachsenen Festival gewünscht.