Das Locarno Film Festival 2023 ist Geschichte. Zeit, Bilanz zu ziehen! arttv Filmjournalist Geri Krebs über ein Festival dessen Internationaler Wettbewerb die Erwartungen unseres Kritikers weit übertroffen hat und über Filme, die ihn herzhaft zum Lachen brachten. Ein fast schon schwärmerischer Bericht über eine emotional überwältigte Dimitra Vlagopoulou und erste Anzeichen, dass der künstlerische Direktor Giona A. Nazzaro sich immer häufiger gegen Filmfestivals wie Venedig und Co durchsetzt.
Manöverkritik Locarno Film Festival 2023
- Publiziert am 16. August 2023
«Locarno 2023 wird in Erinnerung bleiben als der Jahrgang mit den gefühlt besten Wettbewerbsfilmen ever!» - Geri Krebs
«Sowohl das bevorstehende Zurich Film Festival wie die in einem halben Jahr stattfindende Berlinale werden sich warm anziehen müssen, wenn sie ein ebenbürtiges Wettbewerbsprogramm bieten wollen.» – Geri Krebs, arttv.ch
Manöverkritik Locarno Film Festival
Von Geri Krebs
Man rieb sich zu Beginn des Festivals während der Filmvorführungen gelegentlich erstaunt die Augen: ist das noch der Wettbewerb des Locarno Film Festival? Jener Wettbewerb mit Filmen, die man sich andere Jahre ersitzen und erdulden musste, weil es die Berichterstatterpflicht gebot. Ganz anders in diesem Jahr. Schon der Auftakt war viel versprechend: ANIMAL, der Zweitling der griechischen Regisseurin Sofia Exarchou um eine nicht mehr ganz junge Animateurin in einem Feriencamp für All-Inclusive-Gäste war eine Entdeckung. Grossartig gespielt, rasant montiert und gleichzeitig ein Lehrstück entdramatisierten Erzählens – und das ohne einen einzigen Moment der Langeweile. Und da war schliesslich am Festivalende eine emotional überwältigte Dimitra Vlagopoulou. Sie war es, die die Animateurin mit unglaublicher Spielfreude verkörperte, und die dafür einen der Preise für «Best performance» (beste Schauspielerin und bester Schauspieler wurde ja zugunsten der Geschlechtsneutralität abgeschafft, man hat sich das von der Berlinale abgeschaut) entgegennehmen durfte. Absolut verdient.
Selten so gelacht
Doch vom Ende zurück zum Anfang. Dass man sich in gleich zwei Wettbewerbsfilmen köstlich amüsieren, ja, bisweilen totlachen konnte, das gab es wohl noch gar nie: YANNICK, dieser so hinterhältige wie saukomische Huis-Clos über Kunstproduktion und ihre Rezeption, dargeboten mit dem gewohnt durchgeknallten Humor des ungemein fleissigen Franzosen Quentin Dupieux, bekannt auch als DJ Mr. Oizo: das war grandios. Dieser kürzeste und kurzweiligste Wettbewerbsfilm wurde dann gleichentags doch noch getoppt vom zweitlängsten Spielfilm der Sektion: DO NOT EXPECT TOO MUCH OF THE END OF THE WORLD des Rumänen Radu Jude. Schon die Tatsache, dass dieser zehnte Langspielfilm des vormaligen Berlinale Gewinners (BAD LUCK BANGING OR LOONY PORN) dem Vernehmen nach auch vom Filmfestival Venedig gewollt wurde, der Regisseur aber seinen Film lieber in den Wettbewerb von Locarno gab, lässt aufhorchen, und legt den Schluss nahe, dass Giona A. Nazzaro in seinem dritten Jahr als Direktor sich im Haifischbecken der grossen internationalen Filmfestivals immer besser behaupten kann. (Mehr zu Radu Judes Geniestreich unter «Geri Krebs: Wertung Top und Flop Locarno Film Festival 2023», dieselben Artikel finden Sie auch von Chefredaktor Felix Schenker, Leiterin clickcinema.ch Ondine Perier und Filmkritiker Rolf Breiner, siehe unten). Die Tatsache, dass der Film am Ende nicht den Goldenen Leopard erhielt, sondern ‹nur› den Grossen Jurypreis – die gleiche Ehrung, die er in Locarno bereits 2016 für seinen Vor-Vorgängerfilm SCARRED HEARTS bekommen hatte – lässt sich wohl eher damit erklären, dass man einem Berlinale-Gewinner nun nicht auch noch den Locarno-Hauptpreis zusprechen wollte. Die herausragende Qualität des Films hingegen, hätte dies durchaus gerechtfertigt.
Emotionalste Momente
Mit dem Goldenen Leoparden für den Film CRITICAL ZONE von Regisseur Ali Ahmadzadeh, der sein Heimatland Iran nicht verlassen darf und der vom dortigen Regime drangsaliert wird, setzte die Jury ein klares politisches Zeichen. Das mit einem Minimalbudget und heimlich mit Laienschauspieler:innen in den nächtlichen Strassen Teherans und einigen Privatwohnungen gedrehte Werk ist von einem atemlosen Rhythmus geprägt, präsentiert sich formal unglaublich geschlossen und behandelt in ungewohnter Offenheit das Thema der Omnipräsenz von Drogen im Reich der Mullahs. Gespannt und mit grossem Interesse sah man sich diese knapp hundertminütige Irrfahrt eines Drogendealers und Lieferanten an. Und dennoch: Nach rein filmischen Kriterien war es nicht der beste Film des Wettbewerbs. Was sich aber Altkritiker Alfred Schlienger auf dem Schweizer Internetportal infosperber.ch leistet, grenzt an Rufmord und diskreditiert schamlos einen mutigen Filmemacher, der für sein Werk sehr viel riskiert hat: «Vergessen» könne man den Film, befindet Schlienger säuerlich. «Nur aus Mangel an Besserem», sei der Film «mit dem Goldenen Leoparden ausgezeichnet» worden. Und weiter: CRITICAL ZONE sei ein «einfallsloses Imitat», kopiere die Grundidee von «Taxi Teheran» von Jafar Panahi. Ein weiterer klar politischer Preis (Regiepreis), aber noch verdienter als für CRITICAL ZONE, war jener für STEPNE, den Erstling der ukrainischen Regisseurin Maryna Vroda – eine ungemein leise und formvollendete cineastische Perle über die Last der sowjetischen Vergangenheit in einer abgelegenen ländlichen Gegend der Ukraine. Gedreht hat Maryna Vroda ihren Film noch vor Beginn von Putins Angriffskrieg in der Region von Sumy, einer Stadt, die in den ersten Kriegstagen von den Russen erobert, Wochen später aber von der ukrainischen Armee befreit werden konnte. Es gehörte zu den emotionalsten Momenten des ganzen Festivals, als Maryna Vroda an ihre Crewmitglieder erinnerte, die mittlerweile im Krieg umgekommen sind und ihr Kameramann Andrii Lysetskyi davon sprach, wie er noch zehn Tage zuvor für die ukrainische Armee an der Kriegsfront tätig gewesen sei. Ursprünglich habe er nicht nach Locarno kommen wollen – an der Front brauche man ihn dringender. Es waren solche ausserfilmische Momente, die aus dem diesjährigen Locarno Film Festival zusätzlich einen ganz besonderen Jahrgang machten. Und doch waren es letztlich die überragenden cineastischen Qualitäten vieler Locarno-Filme, die den Schluss zulassen: Sowohl das bevorstehende Zurich Film Festival wie die in einem halben Jahr stattfindende Berlinale werden sich warm anziehen müssen, wenn sie ein ebenbürtiges Wettbewerbsprogramm bieten wollen.
Die Piazza und ein Marginalisierter
Angesichts von so viel Schwärmerei bleibt gar nicht mehr viel übrig für das Piazza Programm, bei dem schon von Beginn weg klar war, dass Locarno- (und Cannes-)Liebling Ken Loach für seinen neuesten Film, THE OLD OAK, den Publikumspreis gewinnen würde. Abgesehen davon, dass es innerhalb eines schwachen Programms noch einer der besseren Piazza-Filme war, aber mit Hang zum Sozialkitsch, soll nicht unerwähnt bleiben, dass in Locarno ein anderer neuer Film eines der grossen Altmeister des europäischen Autorenkinos unverständlicherweise total marginalisiert wurde: FINAL REPORT von István Szabo. Der Film ist eine politisch brisante Abrechnung mit Heuchelei, Korruption und dem Fortbestehen uralter Seilschaften im heutigen Ungarn. Der ungarische Regisseur, mit Jahrgang 1938 ist nur zwei Jahre jünger als Loach. Die Filmografie von Szabo ist an Bedeutung für das Weltkino jener von Loach aber durchaus ebenbürtig. István Szabo, Gewinner des Ausland-Oscar (1982 für MEPHISTO), war ebenfalls persönlich in Locarno anwesend. Allerdings nicht auf der Piazza, sondern ziemlich versteckt in der Sektion Histoire(s) du cinéma – wobei die täglich erscheinende Festivalzeitschrift Locarno Daily Szabo dem Regisseur und seinen Film, der ausserhalb Ungarns bis anhin noch nirgends zu sehen gewesen war, mit keinem Wort erwähnte. Zwar gab es für und mit István Szabó eine Veranstaltung, organisiert aus Anlass des 50. Jahrestages der Ökumenischen Jury mit dem Titel: Film, Culture and Spirituality. Leider lief FINAL REPORT erst Stunden später, nachmittags, im ausverkauften grossen Saal des Palacinema. Die Standing Ovations am Ende waren mit jenen für Loach auf der Piazza, zwei Tage davor, durchaus vergleichbar. Man darf sich fragen, welchen Sinn es macht, eine Veranstaltung mit einem Regisseur zu organisieren, bevor der Film für das Publikum überhaupt zugänglich war. Kommt dazu, dass der Regisseur später bei der Präsentation seines Films – in perfektem Deutsch – erklären musste, leider habe ihm das Festival keine Möglichkeit für eine Diskussion nach der Vorführung gegeben, denn der Saal würde gleich anschliessend für den nächsten Film gebraucht. Giona A. Nazzaro stand in dem Moment neben Szabo und mit jedem Wort des Regisseurs verdüsterte sich seine Miene mehr. Eine verpasste Chance in einer ansonsten überzeugenden Festivalausgabe.