Mit einer Erfolgsbilanz von 55 000 Eintritten erreichten die Solothurner Filmtage schon fast wieder Publikumszahlen wie vor der Pandemie. Der neue künstlerische Leiter Niccolò Castelli zeigte sich mit viel Energie und Vielsprachigkeit bei Podien und Filmpräsentationen als kompetenter Sympathieträger. Sein Charme liess die krisengeschüttelte jüngste Vergangenheit dieses zweitältesten Filmfestivals der Schweiz prompt vergessen.
Manöverkritik | 58. Solothurner Filmtage
- Publiziert am 26. Januar 2023
Gewinnerfilme
Den Publikumspreis «PRIX DU PUBLIC» gewinnt Dani Heussers «Amine – Held auf Bewährung», ein Portrait über den wohl bekanntesten Asylbewerber der Schweiz. Selbst am Existenzminimum hilft Amine Diare Conde unermüdlich Menschen, die noch weniger haben als er.
Den «Opera Prima» holt Carmen Jaquier mit ihrem Langfilm-Debüt «Foudre». Die Jury – zusammengesetzt aus Guilhem Caillard (Direktor des Film Festivals Cinemania), Joanne Giger (Drehbuchautorin) und Markus Duffner (Head of Locarno Pro, Locarno Film Festival) – zeichnet damit ein Erstlingswerk aus, das von einem unglaublichen Hauch von Freiheit durchdrungen werde; ein Spielfilm, der verblüffe und berühre. «Sein Gefühl für Bildkompositionen und die im Dienste der Narration stehenden Landschaften versetzen uns in eine andere Zeit», verkünden sie in ihrer Laudatio.
Mit dem «Prix de Soleure», mit 60’000 Franken der höchstdotierte Filmpreis der Schweiz, wird «Until Branches Bend» von Sophie Jarvis ausgezeichnet. In der Jury sitzt der international tätige Karikaturist Patrick Chappatte, die Zürcher Autorin Nina Kunz sowie die niederländische Regisseurin Ineke Smits – sie seien für die knapp hundert Minuten komplett in die vollendete Welt des Werks eingetaucht. In der Laudatio ist zu lesen: «Jede Figur, jedes Gebäude und jedes Detail trägt dazu bei, dass dieses fiktive Universum lebendig wird. Vom Casting über die Farben bis hin zu den Drehorten – all das wirkt in diesem Film sorgfältig und durchdacht.»
Eine Manöverkritik von Geri Krebs
(K)ein Blick zurück
Vergessen ist, dass die Solothurner Filmtage rekordverdächtig sind, was Wechsel, um nicht zu sagen, Verschleiss, an künstlerischen Leitungspersonen anbelangt: Innerhalb von fünf Ausgaben der Filmtage ist Niccolò Castelli nun der vierte künstlerische Leiter. Vergessen ist die traurige Online-Ausgabe von 2021, als der damalige Bundespräsident Guy Parmelin fürs Fernsehen auf der Aarebrücke stehend, die Filmtage mit ein paar wenigen Worten für eröffnet erklärte. Und vergessen sind auch die nachfolgenden Turbulenzen um die vorherige Leiterin Anita Hugi, deren Weggang bis in die letztjährigen Filmtage nachhallte, als eine interimistische Leitung eine – zwar ebenfalls hochkarätige – Ausgabe unter starken Corona-Einschränkungen auf die Beine stellte, dafür aber von mehreren Seiten als fahrlässig und unverantwortlich angefeindet wurde. Der Tessiner Niccolò Castelli hat es nun zusammen mit seiner
Equipe fertig gebracht, dass all das kein Thema mehr war und der Neuanfang geglückt ist – allerdings hat er es hinsichtlich der Fülle von Rahmenveranstaltungen und Podien, insgesamt 60 in sieben Tagen, etwas zu sportlich angegangen.
Die Qual der Fülle
Neben der traditionellen «Rencontre» – die früher einmal «Retrospektive» hiess – und die dieses Jahr erstmals einer Cutterin, der viel zu wenig bekannten Katarina Türler, gewidmet war, gab es zusätzlich dazu vier weitere, sich teilweise thematisch überschneidende Veranstaltungsreihen mit eigenem Filmprogramm: «Fokus: Archivfieber», «Histoires du Cinéma Suisse», «Fare Cinema», «Im Atelier: Zwischen Bühne und Leinwand». Sich da noch zurechtfinden zu wollen, war ein Ding der Unmöglichkeit. Zwar meisterte Niccolò Castelli ganz viele dieser Veranstaltungen, von denen vor allem «Fare Cinema» sein Herzensanliegen und eine seiner wichtigsten Neuerungen war, mit der erwähnten Eloquenz – aber für zukünftige Ausgaben der Filmtage wäre eine Reduzierung der Rahmenveranstaltungen sicher kein Fehler. Dies gilt ebenso für die Programmierung der Filme insgesamt, auch hier würde eine Beschränkung ihrer Anzahl (220 Titel) den Filmtagen sicher nicht schaden. Inhaltlich muss bei dieser Fülle eine Wertung zwangsläufig sehr fragmentarisch und subjektiv gefärbt bleiben.
Das Publikum und die bessere Welt
Dabei fällt auf, dass, wie bereits bei früheren Ausgaben der Filmtage, die Premieren von Spielfilmen für ein betont grosses Publikum fehlten. Einen Film wie «Die Nachbarn von oben» der Erfolgsregisseurin Sabine Boss, der Anfang Februar in die Kinos kommen wird, suchte man in Solothurn vergebens. In diesem Zusammenhang war es schwer verständlich, dass dann ein Film wie das bewegende Biopic «Alma und Oskar» von Dieter Berner, ein Werk mit vergleichbarem Publikumspotenzial wie das Kammerspiel von Sabine Boss, nicht in einer der Hauptwettbewerbssektionen «Prix du Public» oder «Prix de Soleure» lief, sondern nur in der Allerweltssektion «Panorama Spielfilm». Und überhaupt der «Prix de Soleure»: Der 2009 neu ins Leben gerufene Preis, gemäss seiner Satzung für einen Film bestimmt, der «humanistisches Engagement mit prägnanter filmischer Gestaltung vereint», erweist sich zunehmend als Hypothek. Und dass der mit 60 000 Franken höchst dotierte Preis für einen Schweizer Film dieses Jahr ausgerechnet an «Until Branches Bend» der kanadisch-schweizerischen Doppelbürgerin Sophie Jarvis ging, einen in Kanada spielenden, kanadischen Spielfilm, an dem die Schweiz bei der Produktion beteiligt war, lag neben dieser Seltsamkeit vor allem daran, dass der Plot des Films von der Jury als Metapher für die drohende Klimakatastrophe gelesen wurde.
Hochs und Tiefs
Überhaupt schien in den Wettbewerbssektionen der Überhang an Filmen mit pointiert politischem, um nicht zu sagen, Weltverbesserungsanspruch, dieses Jahr besonders hoch. Und es gab hier neben Tiefschlägen, wie dem ziemlich verwirrlichen schweizerisch-kosovarischen Nachkriegsepos «The Land Within», oder dem Propagandafilm für die Operation Libero, «Theory of Change», durchaus auch Highlights. Dazu gehörten etwa das tragikomische Historienepos «A Forgotten Man» von Laurent Nègre (das seine Premiere allerdings bereits am Zurich Film Festival gehabt hatte), die ganz aus Archivmaterial geschaffene Höllenfahrt in die tiefsten Abgründe des zweiten Weltkriegs, «Trained to See – Three Women and the War» von Luzia Schmid, oder die – so noch nie gesehene – dokumentarische Langzeitbegleitung eines afrikanischen Flüchtlings durch den Dschungel schweizerischer Asylbürokratie, «Amine – Held auf Bewährung» von Dani Heusser. Die Tatsache, dass dieser Film dann am Ende den Publikumspreis gewann, setzte einen markanten Schlusspunkt dieser 58. Filmtage und zeigte, dass das Publikum oft doch Recht hat.