Giona A. Nazzaro im Interview über die enorme Menge an Filmen, die dem Festival zur Auswahl standen, um die 76. Festivalausgabe zu programmieren und warum Filmpreise für ihn wichtig sind. Er erläutert, ob die Neuen Medien und die Vielzahl an Plattformen eine Gefahr für das Kino darstellen und was Hollywood dem mexikanischen Kino zu verdanken hat. Was sind eigentlich seine grössten Ängste, Wünsche und Ambitionen hinsichtlich Locarno 2023?
Interview Giona A. Nazzaro | Locarno Film Festival
«Mein Ehrgeiz besteht darin, das Publikum spüren zu lassen, dass es der Hauptgast des Locarno-Festivals ist, und wir das alles für unsere Gäste tun.»
Mit Giona Nazzaro sprach Ondine Perier
Giona Nazzaro, Sie sind zum dritten Mal in Folge künstlerischer Leiter des Locarno Film Festivals. Lässt sich für die 76. Ausgabe eine Art roter Faden erkennen?
Ich denke, es gibt mehrere, aber ich möchte nicht sagen, welche, denn wir haben diese roten Fäden erst im Laufe der Arbeit für die 76. Festivalausgabe entdeckt. Jetzt, wo wir einen gewissen Abstand zum Programm aller Sektionen gewonnen hatten, stellten wir fest, dass sich eine Art Diskurs durch unsere Filme zieht. Ich möchte jedoch nicht weiter darauf eingehen, da es meiner Meinung nach zum Vergnügen der Zuschauer:innen gehören muss, selber die Übereinstimmungen zwischen den Filmen zu entdecken. Wir haben uns bei der Filmauswahl vor allem von der Freude am Entdecken leiten lassen. Erst danach wurde uns bewusst, wie stark unsere Filme miteinander in einen Dialog treten
Wie viele Filme standen zur Auswahl, bis das Programm der 76. Ausgabe stand?
Wir haben über 5.000 Filme aus allen Sektionen, Längen und Formaten erhalten, die wir gemeinsam mit dem Auswahlkomitee gesichtet haben.
Auch in diesem Jahr werden wieder zahlreiche Preise verliehen. Welche liegen Ihnen mehr am Herzen, jene die als Sprungbrett für junge Filmemacher:innen funktionieren oder jene, die als Ehrung etablierter Filmemacher:innen zu verstehen sind?
Preise sind für mich generell wichtig. Eine Auszeichnung zu vergeben bedeutet für mich, Menschen einzuladen, das «Locarno-Haus» zu teilen. Man überlegt sich, wen man gerne als Nachbar:innen oder Mitbewohner:innen hätte. Ich weiss, dass manchmal reklamiert wird, es gäbe zu viele Preise, aber für mich sind sie Ausdruck von Zuneigung und Respekt – eine Liebeserklärung.
Ist Ihrer Meinung nach die Entwicklung des Kinos, das Aufkommen der Neuen Medien und die Vielzahl der Plattformen eine Gefahr für das Kino?
Das ist eine Frage, die immer wieder auftaucht, weil sie in Bezug auf die Verwertung von Filmen, aber auch in Bezug auf die Produktion und Verbreitung von Filmen von zentraler Bedeutung ist. Ich denke, wir stehen noch am Anfang dieser ganzen Diskussion. Meiner Meinung nach ist es noch zu früh abschliessend darauf zu antworten, und das ist keine Art, sich vor einer Antwort zu drücken. Ich denke nur, dass das, was wir jetzt sagen, vielleicht übermorgen widerlegt wird. Während der Pandemie haben wir gesehen, dass sich die Lage von Tag zu Tag ändert. Hier trete ich einen Schritt zurück und komme auf eine Aussage der Gebrüder Lumière zurück: «Das Kino ist eine Erfindung ohne Zukunft». Das ist es, und 120 Jahre später sind wir immer noch hier und reden über das Kino. Ich denke, dass der Kinosaal als Ort genau so bleiben wird wie das Museum oder das Theater. Es ist aber ein interessanter Widerspruch zu beobachten, dass die Kinos sich schwertun, das Publikum zu mobilisieren, während die Filmfestival zu echten Anziehungspunkten geworden sind.
*Sie überschreiben Ihren Leitartikel mit «Das Kino, wir und die Welt. Gemeinsam». Was meinen Sie damit?
Mehr denn je ist das Kino eine Hypothese einer Gemeinschaft oder einer möglicher Gemeinschaften. Wir haben keine Antwort, aber ich denke, dass das Kino mehr ist als einfach ein Fenster nach Aussen. Es ist eine echte Chance!
Was zeichnet Locarno Ihrer Meinung nach im Vergleich zu anderen A-Festivals aus?
Es ist die überwältigende Dimension von Gemeinschaftsgefühl, die den Unterschied ausmacht. Während des Filmfestivals verwandelt sich die ganze Stadt Locarno selber in ein Festival. Die Tatsache, dass das Stadtzentrum mit dem Zentrum des Festivals zusammenfällt, gibt einem fast physisch das Gefühl, dass etwas Grosses passiert. Übrigens ist das Kino die Kunst des Übergangs, d. h. etwas, das sich von einem Punkt zu einem anderen bewegt. Von der Vorstellungskraft der Filmemacher:innen zum Set, vom Set zum Schnittplatz, von da zum Vorführraum, weiter zum Publikum. Vom Publikum strahlt das Kino auf die Gemeinschaft aus. In Locarno ist diese Emotion auf sehr offensichtliche Weise bis in die hinterste Gasse zu spüren.
Gab es während der Vorbereitung überraschende Entdeckungen über Filme und Filmemacher:innen?
Es ist nicht so, dass das gesamte Komitee alle Filme gleichermassen mochte, aber unsere sich überschneidenden Blickwinkel haben dazu beigetragen, dass das Festival eine Art kollektives Highlight wird. Von Lav Diaz über Sofia Exarchou bis hin zu Quentin Dupieux, von Radu Jude über Rainer Sarnet, Simone Bozzelli über Annarita Zambrano bis hin zu Dani Rosenberg. Sie sind allesamt Ausdruck dafür, wie sehr man sich in bestimmte Filme verlieben kann.
Sie setzen auch ein Schlaglicht auf den mexikanischen Film…
Wir haben das ganze Jahr an der mexikanischen Retrospektive gearbeitet und sind sehr zufrieden. Begleitend erschein ein Buch (Englisch/Spanisch), das unsere Arbeit kontextualisiert. Die Retrospektive umfasst 36 Filme und kaum einer wurde bisher ausserhalb Mexikos gezeigt. In Mexiko selber waren sie aber sehr erfolgreich, sodass wir Zuschauer:innen, Filmkritiker:innen und Studierenden einen wichtigen Teil der Filmgeschichte präsentieren können. Es ist ein spannendes Programm, da es die verschiedenen Facetten des mexikanischen Kinos aufzeigt. Es werden nicht nur dessen bekannteste Genres gezeigt, sondern auch Musicals, Kriminalfilme, Melodramen, Western und vieles mehr. Die Retrospektive konzentriert sich auf Filme, die von den späten 30er bis zu den späten 60er-Jahren entstanden sind. Diese Zeitspanne ist ganz wichtig in der Geschichte des mexikanischen Films. Denn obwohl die mexikanische Filmindustrie jener Hollywoods geografisch sehr nahe war, behauptete sie sich ohne jeden Minderwertigkeitskomplex. Im Gegenteil: Es war das mexikanische Kino, dass Hollywood Talente bescherte, darunter Dolores Del Río.
Was ist Ihre grösste Sorge: Schlechtes Wetter, das Kommen der Gäste, die rechtzeitige Anlieferung der Filme?
(lacht) Sie haben drei genannt, das ist schon genug!
Und hinsichtlich Ihrer Ambition, Ihr grösster Wunsch für diese Ausgabe?
Dass die Piazza Grande immer voll ist, dass die Säle immer voll sind und dass das Publikum spürt, dass es der Hauptgast unseres Festivals ist, dass wir das alles nur für unsere Besucher:innen machen. Wir wünschen uns, dass das Publikum diese Nähe und unser Engagement spürt.