Der achte Spielfilm von Arnaud des Pallières spielt im Krankenhaus La Pitié Salpêtrière im Jahr 1894. Im Zentrum steht der «Ball der Verrückten», ein Ereignis, das sowohl mondän als auch tragisch war. Im Interview spricht der französische Regisseur über seine Idee, die vielen Facetten der Weiblichkeit darzustellen – von komisch bis ernst, von wütend bis verrückt – und dabei alle Dimensionen des Frauenlebens jenseits der Klischees zu erforschen.
Interview Arnaud des Paillères | CAPTIVES
- Publiziert am 25. Juni 2024
Mit Arnaud des Pallières sprach Ondine Perier
Wie entstand die Idee, einen Film über die Internierung von Frauen im Hôpital de la Salpêtrière Ende des 19. Jahrhunderts zu drehen? Gibt es eine Verbindung zu Victoria Mas’ Roman LE BAL DES FOLLES (Der Ball der Wahnsinnigen)?
Nein, ganz und gar nicht. Jonathan Blumental, der Produzent, hatte die Idee, diesen Film zu drehen, schon viel früher, nachdem er eine Wikipedia-Seite gelesen hatte, die von einem historisch belegten Ereignis handelt: dem Ball, der jedes Jahr im Krankenhaus La Salpêtrière stattfand. Er wollte, dass ich mir eine Geschichte dazu überlege, was ich zusammen mit meiner Co-Drehbuchautorin Christelle Berthevas tat. Mit ihr habe ich bereits an zwei Filmen gearbeitet. Als wir anfingen, das Drehbuch zu schreiben, war der Roman von Victoria Mas noch nicht veröffentlicht. Später, als er publiziert war, bat man uns, diesen zu adaptieren. Wir lehnten aber ab, da wir bereits unsere eigene Geschichte entwickelt hatten.
Warum wollten Sie keine Adaption?
Ihre Perspektive wich stark von unserer ab. Wir wollten uns mehr auf historische Fakten konzentrieren. Mein Ansatz als Filmemacher ist primär im Materialismus und Realismus verwurzelt.
*Die Lebensbedingungen im Krankenhaus Salpêtrière historisch korrekt darzulegen, war Ihnen also wichtig. Wie zeigt sich
das in Ihrem Drehbuch?*
Um die historische Genauigkeit zu gewährleisten, haben wir umfangreiche Nachforschungen angestellt und dabei von den Fähigkeiten meiner Co-Drehbuchautorin als Historikerin profitiert. Die Hauptfiguren sind von realen Personen inspiriert, die wir im Laufe unserer Recherchen entdeckt haben, auch wenn die Daten manchmal leicht verändert wurden. Unser Ziel war es, die Epoche, in der die Erzählung spielt, authentisch wiederzugeben, indem wir reale Kulissen verwendeten und so die unverwechselbare Atmosphäre des Krankenhauses Salpêtrière getreu nachstellten.
Genau dieses Streben nach Genauigkeit hat mich beeindruckt. Wie ist das Verhältnis zwischen Originalschauplätzen und Studioaufnahmen und wie haben Sie Klischees vermieden, um ein nuanciertes Porträt der Figuren zu gewährleisten, ohne sie zu stigmatisieren?
Sie irren: Kein einziges Set wurde im Studio gebaut. Obwohl es mein Traum gewesen wäre, in La Salpêtrière zu drehen, erwies sich dies aufgrund der Pandemie und dem laufenden Betrieb des Krankenhauses als unmöglich. Stattdessen entschieden wir uns für eine Rekonstruktion der Schauplätze, indem wir in verschiedenen historischen Räumen in ganz Paris filmten. Die Arbeit mit Licht, Kostümen und die Art und Weise, wie wir Körper und Gesichter filmten, zielte darauf ab, eine visuelle Ästhetik zu schaffen, die weit von den üblichen historischen Filmen entfernt ist.
Ihr Film besticht durch eine ganz besondere Farbigkeit
In enger Zusammenarbeit mit meiner Co-Autorin machten wir uns auf die Suche nach den für die damalige Zeit typischen Farbnuancen. Wir wollten die mit historischen Filmen verbundenen Klischees überwinden, indem wir die häufig verwendeten dunklen und trüben Töne vermieden. Darum entschieden wir uns dafür, eine unerwartete und vibrierende Farbwelt zu präsentieren. Der Kontrast zwischen der Grausamkeit des Alltagslebens und der hellen Präsenz der Sonne war eine Schlüsselstrategie, um den Realismus der Geschichte zu verstärken. Die Verwendung von kräftigen Farben war auch eine bewusste Entscheidung, um zu zeigen, dass die Figuren zwar mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben, ihre Realität aber nicht farblos ist.
Wie waren die Reaktionen?
Als das Schnittteam diese Dailies sah, war die Überraschung über die Lebendigkeit und den Reichtum der Farben spürbar. Die Verwendung dieser Farbpalette half dabei, die Härte der Geschichte zu mildern. Die Autochrombilder aus dem 19. Jahrhundert waren also eine wichtige Inspirationsquelle und öffneten uns die Türen zu einem Farbenreichtum, der für die Wirkung eines Films allzu oft unterschätzt wird. Diese Archivbilder beeinflussten die Farbtöne, die in den Kostümen, dem Make-up und den Kulissen des Films verwendet wurden. Sie trugen dazu bei, die konventionellen Stereotypen von Dunkelheit und Düsternis zu vermeiden.
Was war Ihnen bei der Rollenbesetzung wichtig?
Ich wollte eine Vielfalt an weiblichen Charakteren bieten, die über die traditionellen Erwartungen hinausging. Die Idee war, die vielen Facetten der Weiblichkeit darzustellen – von komisch bis ernst, von wütend bis verrückt – und dabei alle Dimensionen des Frauenlebens jenseits der Klischees zu erforschen. Einige Schauspielerinnen waren von Anfang an vorgesehen, wie Josiane Balasko und Yolande Moreau. Andere kamen erst später im Prozess hinzu.
Wie hat Ihre Erfahrung mit Dokumentarfilmen die ästhetischen und inszenatorischen Entscheidungen beeinflusst?
Ich wollte mit der akademischen Tradition von Epochenfilmen brechen. Häufig sind diese Filme von einer klassischen Ästhetik geprägt, die von einer manchmal allzu respektvollen Vorstellung von der Vergangenheit diktiert wird.
Ich teile aber die Idee, dass die Vergangenheit mit einer zögernden, suchenden Kamera erkundet werden sollte, die sich ähnlich wie ein Journalist auf der Suche nach Informationen positioniert. Der strategische Einsatz von Zoom, schwebenden Bewegungen und sogar von Unschärfe, die im Schnitt beibehalten wurde, war bewusst. Diese filmischen Entscheidungen wurden integriert, um die Gefühle der Hauptfigur einzufangen und den Zuschauenden so ein immersives und authentisches Erlebnis zu bieten.
Sie spielen im Film gerne mit Unschärfe
In Anlehnung an die Idee, Unschärfe nicht zu fürchten, sie manchmal zuzulassen und im Schnitt beizubehalten, habe ich versucht, eine visuelle Ästhetik zu schaffen, die über die üblichen Konventionen hinausgeht, die mit Filmen aus der damaligen Zeit in Verbindung gebracht werden. Dieser Ansatz zielte darauf ab, Dynamik und Spontaneität zu schaffen und damit mit der zu starren und vorhersehbaren Seite zu brechen, die dieser Art von Filmen oftmals zugeschrieben wird. Eine weitere Grundidee war, die Zuschauenden durch die Augen der Hauptfigur das Geschehene erleben zu lassen. Dies verstärkt die Immersion, indem es dem Publikum ermöglicht, die Perspektive und die Emotionen der Figur zu teilen. Indem ich eine zeitgenössische Filmästhetik und einen immersiven Ansatz verfolgte, war es mein Ziel, eine emotionale und narrative Verbindung zu schaffen, die Zeitbarrieren überwindet und so die Vergangenheit in ein vibrierendes und relevantes Filmerlebnis verwandelt.
Zum Abschluss möchte ich noch eine allgemeinere Frage ansprechen. Wie lassen sich Kino und künstliche Intelligenz miteinander vereinbaren, insbesondere im Kontext des historischen Films?.
Ich denke, dass es keinen grundlegenden Unterschied zwischen Spielfilmen und historischen Filmen gibt. Und im Übrigen habe ich mich überhaupt nicht darauf spezialisiert. Ich versuche, unvorhersehbares Kino zu machen. Künstliche Intelligenz beruht meiner Meinung nach auf Funktionsprinzipien und statistischen Berechnungen. Indem man am Rande bleibt, indem man singulär bleibt, entzieht man sich stärker dem Zugriff der Statistik und wird weniger vorhersehbar, weniger mit statistischen Daten gleichgesetzt. Das Aufrechterhalten einer künstlerischen Singularität ist eine Möglichkeit, sich vor möglichen Produktionen künstlicher Intelligenz im Filmbereich zu schützen.
Werden Sie KI in Ihren Filmen einsetzen?
Bisher habe ich noch nicht erforscht, wie ich Werkzeuge der künstlichen Intelligenz in bestimmte Phasen meiner Arbeit einbauen könnte. Aber vielleicht schlägt mir bei meinem nächsten Projekt eine® meiner Mitarbeiter:innen ein Werkzeug vor, das eine meiner spezifischen Anforderungen optimal erfüllen kann.
Vielen Dank für das Gespräch