Der Dokumentarfilm «Cascadeuses» richtet die Kamera auf Virginie, Petra und Estelle, die damit spielen, für die Zwecke eines Drehbuchs geschlagen, getötet oder vergewaltigt zu werden. Regisseurin Elena Avdija hinterfragt unser Verhältnis zur Darstellung von geschlechtsspezifischer Gewalt in Film und Fernsehen. Indem sie sich vom Set entfernt und in das Privatleben ihrer drei Protagonistinnen eindringt, entdramatisiert sie das Spektakuläre. Mehr im Interview.
Cascadeuses
Stuntfrauen, die sich für unsere gewalttätigen Phantasien in Gefahr bringen. Ein Actionfilm des Intimen
Elena Avdija (*1987) studierte Soziologie an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris. Nach einem Master in Dokumentarfilmregie am INA arbeitete sie als Regieassistentin und schrieb Drehbücher für historische Dokumentarfilme, unter anderem für Point du Jour und Arte in Paris. Nach ihrer Rückkehr in die Schweiz spezialisierte sie sich auf das Casting von Statist:innen und kleine Rollen für Serien und Spielfilme. Dieser Teil ihrer Arbeit verdeutlicht ihr Interesse an Berufen, die sich im Schatten der Filmindustrie bewegen. Avdija hat auch zwei kurze Dokumentarfilme produziert und inszeniert, «D’ici ou de là-bas?» (2013) und «Option: théâtre!» (2017). Cascadeuses ist ihre erste Dokumentation in Spielfilmlänge.
Interview mit Elena Avdija
Wie sind Sie auf den Beruf der Stuntfrau gestossen?
Alles begann mit einem Abschlussprojekt während meines Masterstudiums in Dokumentarfilmgestaltung am INA in Paris. Schon lange vor diesem Projekt interessierte ich mich für Genderfragen, gemischt mit einer Faszination für das, was hinter den Kulissen des Kinos passiert. Mit meiner damaligen Kollegin Jeanne Lorrain schauten wir uns Stunts im Kino an und fragten uns, wie es um die Realität dieses Berufs bestellt ist, der vor allem männlich besetzt zu sein schien. Wir kannten niemanden, der ihn ausübte, aber wir wurden schnell auf die Spur von Virginie Arnaud gebracht, die DIE französische Stuntfrau ist und uns ihre Geschichte erzählt hat.
Aber der Film ist nicht nur ein Berufsporträt.
Es geht um eine Geschlechterfrage, die über die berufliche Repräsentativität hinausgeht: die Repräsentation von Frauen auf der Leinwand. Virginie war sich bewusst, dass sie viele Schauspielerinnen doubelt, die Opfer von Gewalt sind. Es wird viel über das Sprechen von Frauen im Film gesprochen, darüber, wie es verteilt wird, zum Beispiel mit dem Bechdel-Test. Aber wie die Verteilung von Gewalt auf der Leinwand dargestellt
wird, das wird selten betrachtet. Und genau das untersucht der Film.
Womit hat Virginie Sie bewegt?
Mit ihren Überlebensstrategien. Ich habe das Gefühl, dass sie ständig auf Diplomatie und Humor zurückgreift, sie schont die Menschen in ihrem Umfeld. Eine Haltung, die viele Frauen in Männerwelten teilen: sich nie den Kopf zerbrechen, über sexistische Bemerkungen lachen, deeskalieren. Wir verbrachten mehrere Wochen mit ihr, ohne zu filmen, und wir sahen immer wieder Szenen, in denen es schwer war, zwischen Spiel und Belästigung zu unterscheiden. Und ausserdem ist Virginie eine Frau, die sich ihren Platz ganz allein geschaffen hat, niemand hat ihn ihr gegeben.
Und Petra, die zweite Protagonistin, warum haben Sie sie ausgewählt?
RTS hatte eine Reportage über Schweizer:innen in Los Angeles gedreht und Petra war dabei. Sie ist ein bisschen das Gegenteil von Virginie, die wirklich eine Technikerin im Hintergrund ist. Sie ist auf der Suche nach ihrem Platz im Universum. Sie stammt aus einer Deutschschweizer Familie, war das einzige Mischlingskind in ihrem Dorf und ist in die USA gegangen, um ihren Platz zu finden. Sie begibt sich immer wieder auf eine neue Suche, erst war es der Zirkus, dann Stunts, jetzt ist es die Schauspielerei. Ihre Ambivalenz, ihr Zögern berühren mich. Ihre Suche nach Licht und Anerkennung ist mit ihrem innersten Wesen verbunden.
Sie haben drei Hauptcharaktere und zahlreiche Nebencharaktere. War es wichtig, dass es mehrere Stuntfrauen gibt?
Eine Geschichte ist ein Porträt, drei Geschichten hingegen, das ist die Geschichte von allen. Wir fanden es schwierig, dass Virginie alle Fragen im Zusammenhang mit dem Geschlechterverhältnis allein beantwortet. Wir wollten verschiedene Perspektiven. Neben ihr und Petra suchten wir also nach einer jüngeren Stuntfrau, die sich noch im Kokon der Schule befindet. Behütet, aber bereit für die Arbeit. Estelle zu finden war ein langer Prozess von Begegnungen, wie ein Casting.
Inwieweit war die Geschlechterfrage für die Protagonistinnen problematisch?
Sie sind weder Feministinnen noch Aktivistinnen. Sie sind im Tun. Es galt, ein Gleichgewicht zwischen meiner sehr dokumentierten, sehr theoretischen Interpretation und ihrer Realität zu finden. Dabei war es wichtig, ihre Worte zu respektieren! Ich wollte sie nicht auch noch ihres Images berauben, während man sie bereits ihres Körpers beraubt, indem man sie nackt und schutzlos stürzen lässt, weil Négligés und kurze Röcke sexyer sind als Hosen.
Hat Ihre Arbeit an dem Film dazu geführt, dass sich ihre Positionen verändert haben?
Virginie hat sich in den letzten zehn Jahren stark weiterentwickelt. Sie hatte die Praxis, ich die Theorie, und wir trafen uns auf halbem Weg wieder. Estelle hingegen ist es egal, sie hat überhaupt nicht diese Interpretation und sie sagt das auch! Ich habe mit den Nebencharakteren gearbeitet, die sie mit diesen Fragen konfrontieren: ihre Kollegin Marie, die ein Kind bekommen hat, während sie weiterhin arbeitet, oder die junge Stuntfrau, die erzählt, dass sie nicht mehr arbeiten kann, seit sie selbst Opfer häuslicher Gewalt geworden ist.
Was hat Sie während der monatelangen Dreharbeiten geprägt?
Ich habe mit vielen Frauen gesprochen, die sexistische und sexuelle Gewalt erlebt haben. Am Ende der Dreharbeiten sprachen wir fast nur noch darüber und es war sehr bedrückend, in diesen Erfahrungsberichten zu baden und dass es so greifbar war, inwiefern diese Frauen um mich herum das erlebt haben.
Haben Sie einen militanten Film gemacht?
Ich habe mich darum bemüht, ja. Ich sehe keinen Grund, es nicht zu tun. Für mich gibt es keinen Unterschied zwischen Kunst machen und Politik machen.
Kommen wir zu einem leichteren Thema: Haben Sie versucht, Stunts zu machen?
Ich bin aus dem ersten Stock des Turms, den man am Ende des Dokumentarfilms sieht, aus einer Höhe von vier Metern gesprungen. Ich hatte sehr grosse Angst, aber ich hatte keine andere Wahl. Allerdings würde ich gerne die Autofahrten ausprobieren, die Petra trainiert, bei denen das Auto ins Schleudern gerät.
Möchten Sie weiter an dem Thema Stunts arbeiten?
Eine Frage, die ich mir oft gestellt habe: Wäre dieses Thema in einem Spielfilm besser aufgehoben gewesen? Denn dann hätte ich mehr zeigen können. Also jetzt wäre es mein Traum, mit diesen Stuntfrauen zu arbeiten, ihre Fähigkeiten für Geschichten und Frauenfiguren zu nutzen, die nicht ständig verprügelt, erwürgt, erhängt oder von Autos überfahren werden. Ich möchte ihr Können nutzen, um Geschichten über starke Frauen zu erzählen.
Welche Stunts würden Sie ihnen gerne schreiben?
Stunts von Superheldinnen, die die Gesetze der Physik brechen, bei denen sie fliegen! Ich habe festgestellt, dass Männer viel mehr unrealistische Stunts machen als hätten sie Superkräfte – während Frauen auf realistische Stunts beschränkt sind. Und je härter und brutaler sie sind, desto besser gefällt es uns. Genau das würde ich gerne umkehren.
Interview: PASCALINE SORDET