Einen beeindruckenden Saisonstart legt Heinz Spoerlis Zürcher Ballett hin: Zwei berührende Choreographien (NOCTURNES/DER TOD UND DAS MÄDCHEN) des Ballettdirektors umrahmen Hans van Maanens rasantes Tanzstück SOLO!
Zürcher Ballett | Ballettabend
Kritik:
Ein in sich wunderbar geschlossener, stimmiger Ballettabend eröffnet die neue Saison des Opernhauses Zürich. Man könnte von einer A – B – A Form sprechen: Der kürzlich 70 Jahre alt gewordene (man glaubt es kaum!) Ballettdirektor Heinz Spoerli zeichnet für die von einer eher melancholisch-elegischen Stimmung beherrschten Choreographien des ersten und des letzten Stücks verantwortlich, dazwischen fügt er – quasi als Scherzo – das herrlich witzige Tanzstück SOLO von Hans van Maanen ein.
Vor einer mit mit ornamentalen Blattmotiven bedruckten Wand, vor die sich ab und zu ein transparenter, silbern schimmernder Vorhang zieht (Bühne: Florian Etti), steht der Konzertflügel. Die Tänzer schreiten lautlos herein, irgendwie bedrückt von der Mühseligkeit des Alltags. Doch dann beginnt der phantastische Pianist Alexey Botvinov mit seinem begeisternden Spiel, interpretiert mit wunderbar leicht perlendem Anschlag und klug gesetzten Ritardandi sechs NOCTURNES aus der Feder Chopins. Die beiden Frauen (grossartig getanzt von Aliya Tankypayeva und Viktorina Kapitonova) wirken so rein und zerbrechlich, werden immer wieder gestützt, getragen. Vergänglichkeit und Aufflackern von Lebenslust und Kraft (Vahe Martirosyan, Arsen Mahrabyan, Stanislav Jermakov verkörpern zusammen mit Sergiy Kirichenko, Daniel Mulligan und Jiayong Sun die kraftspendenden Elemente) wechseln sich ab. Manchmal scheint die bedrückende Schwermut der Choreographie die leicht dahin perlenden Nocturnes beinahe zu konterkarieren. Doch gerade das macht den Reiz dieses Stückes aus.
Ganz anders dann das anschliessende SOLO in der Choreographie des grandiosen Altmeisters des Balletts, Hans van Maanen. Zu zwei Sätzen aus der h-Mall Partita von Bach hat er ein Tanzstück geschaffen (mit knapp sechs Minuten Dauer sein kürzestes überhaupt), gespickt mit Schwierigkeiten, die für einen Tänzer alleine kaum zu schaffen wären. Mit stupender Präzision stürzen sich Olaf Kollmannsperger, Arman Grigoryan und Dimitri Govoroukhine auf die Bühne, begeistern mit perfekter Fussarbeit, clowneskem, beinahe slapstickartigem Tanz, ohne je belanglos oder anbiedernd zu wirken. Dass dies mit der Musik von Bach zusammen funktioniert, beweist die Meisterschaft van Maanens. Der Konzertmeister des Orchesters der Oper Zürich, Bartolomiej Niziol, intoniert mit seiner Guarneri Violine die immens schwierig zu spielende Parita mit atemberaubender Leichtigkeit. So wird dieses Mittelstück auch musikalisch zu einem Erlebnis der Sonderklasse.
Zusammen mit Anahit Kurtikan (Violine), Karen Opgenorth (Viola) und Claudius Herrmann (Violoncello) begeistert Bartlomiej Niziol nach der Pause dann auch mit der Interpretation von Schuberts Streichquartett DER TOD UND DAS MÄDCHEN. Als schwarze, raumgreifende Gestalt taucht der Tod (Vahe Maritosyan) aus dem Nebel auf, punktgenau auf die Musik. Immer wieder bedroht er, für die Jungen und Mädchen unsichtbar, den scheinbar fröhlichen Tanz in der ländlichen Idylle. Die Stimmung auf der Bühne erinnert irgendwie an Romeo und Julia aus dem Dorfe (Bühne und Kostüme: Florian Etti). Doch noch schafft es das Mädchen immer, ihm irgendwie zu entwischen, sie pflückt im letzten Moment ein Blume und taucht so unter seinen allgegenwärtigen Greifarmen weg oder tanzt mit den Jungs. Doch dann folgt der grosse, virtuos choreographierte Pas de deux zum zweiten Satz: Das Zögern des Mädchens wird nach und nach zu einer Hingabe an die Verführungskraft und die Macht des Todes. Nora Dürig gestaltet diese Wandlung mit berührender Eindringlichkeit, Vahe Martirosyan ist hier mit seiner ausserordentlichen Bühnenpräsenz sowieso ideal besetzt. Mit naiver, spielerischer Unbeschwertheit tanzen fünf Paare (mit prächtiger Souplesse Clémence Andréoni, Mélanie Borel, Julette Brunner, Pornpim Karchai, Vittoria Valerio, Bryan Chan, Sergiy Kirichenko, Danile Mulligan, Adam Reist, Jiayong Sun) das Scherzo, welches Spoerli phänomenal choreographiert hat. Doch schon wird die Musik wieder schwerer, im Hintergrund schreitet der Tod im Nebel mit dem Mädchen dahin, er wird zwar von den unbeschwert Tanzenden immer wieder von seiner Aufgabe abgelenkt, doch vermag sich das Mädchen nicht mehr von ihm zu lösen. Sie ist nun wie Wachs in seinen Armen, gehört ihm ganz: Dies ist wohl der bezwingendste Moment des neuen Werks von Heinz Spoerli. Das Mädchen versinkt im Nebel, der Tod schaut begierig auf sein nächstes Opfer – es wird einer der Jungs sein.
Verdienter, begeisterter Beifall für TänzerInnen, Choreograph und vor allem auch die MusikerInnen!
Werke:
Nocturnes
Chopin komponierte 21 Nocturnes, lyrisch-elegische Kompositionen für Klavier solo und obwohl er das Genre nicht selbst erfunden hatte, ist der Begriff „Nocturne“ untrennbar mit dem Namen des polnischen Komponisten verbunden. Aufbauend auf einer simplen A-B-A Form (mit Coda) entwickelte Chopin diese Miniaturen zu romantisch-schwelgerischen, von empfindsamer Melodik geprägten Klavierstücken, bei denen die Virtuosität meist hinter der Empfindung zurücksteht. Nach einer langsamen Introduktion folgt ein schnellerer, dramatischerer Mittelteil um zum Ende hin wieder zur Stimmung der Eingangstakte dieser Nachtstücke zurückzufinden.
Solo
Bachs Partita I h-Moll, BWV 1002 (entstanden ungefähr 1717), besteht aus den vier Sätzen Allemande, Corrente, Sarabande, Bourée. Sie gehört zusammen mit seinen anderen Kompositionen für Violine solo zu den unbestrittenen Höhepunkten der Violinliteratur. Diese Partiten fanden in den Kompsitionen von Nicolò Paganini, von Max Reger, Eugène Ysaÿe u. a. würdige Nachfolger. Die Verbindung von polyphonem und melodiös-tänzerischem Satz, die Vermischung von Sonaten- und Suitenstil und die hohen spieltechnischen Anforderungen stellen für die InterpretInnen eine grosse Herausforderung dar.
Der Tod und das Mädchen
Schuberts Streichquartett in d-Moll (komponiert 1823/24) dreht sich um die Begegnung mit dem Tod, die Hoffnung und die Verzweiflung rivalisieren als gegensätzliche Elemente in einer Art Totentanz miteinander, mal drängt sich das eine, dann wieder das andere in den Vordergrund. Der zweite, mit beinahe überirdischer Schönheit dahinfliessende Satz basiert auf Schuberts Vertonung des gleichnamigen Gedichts von Matthias Claudius. Im Schlusssatz endet das Leben nicht in tiefer Trauer, sondern transzendiert in einer Art Ritt in die Ewigkeit.
Der Autor Ariel Dorfman schrieb ein Theaterstück, welches von Schuberts Musik angeregt wurde. Die Verfilmung dieses Stücks durch Roman Polanski (mit Sigourney Weaver und Ben Kingsley) gilt als Meisterwerk der Filmgeschichte.
Für art-tv und oper-aktuell © Kaspar Sannemann, 28.8.2010