Bauersfrau, sechzehnfache Mutter und Kartenlegerin: 1929 wird Verena Lehner wegen Giftmord an zwei ihrer Kostgänger*innen angeklagt. Die Autorin Ariane Koch deckt schreibend Fragmente von Verena Lehners Schicksal aus feministischer Perspektive auf. Das aktuelle Stück von Theater Marie gibt der historischen Figur eine Redegelegenheit, die sie nie hatte.
Theater Marie | verdeckt
Die Kartenlegerin
Verena Lehner wächst in ärmlichen Verhältnissen auf. Die Bauersfrau und sechzehnfache Mutter legt in ihrem Hof im Rynetel zwischen Suhr und Gränichen in den frühen Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts Frauen und Männern Karten. Ihr Ehemann ist ein Trinker. Sie sorgt praktisch alleine für die Kinder und verdient zusätzliches Geld, indem sie kranke und alte Menschen auf ihrem Hof pflegt. Ihr monetäres Kapital häuft sich an und ihr Wissen über die Aargauer Bourgeoisie wächst.
1929 wird Verena Lehner wegen Giftmord an zwei ihrer Kostgänger*innen angeklagt. Es wird Arsen in den Körpern der Opfer nachgewiesen. Die Tat soll einige Jahre zurückliegen, die Indizienlage ist diffus. Die vermeintliche Mörderin leugnet bis zum Schluss. Die Zeitungen berichten beinahe täglich über den Sensationsprozess. Verena Lehner wird zu lebenslanger Haft verurteilt. Bei der Urteilsverkündung versammeln sich 400 Aarauerinnen und Aarauer, nicht wenige von ihnen Kund*innen der Kartenlegerin, vor dem improvisierten Gerichtssaal im Rathaus.
Konstruktion einer Verteidigung
Ariane Koch, die sich von Kurt Badertschers Buch «Giftmord» (2018) und dem Roman “Die Wahrsagerin” von Rösy von Känel (1936) inspirieren lässt, deckt schreibend Fragmente von Verena Lehners Schicksal aus feministischer Perspektive auf. Erinnerungen an ihr Leben montiert sie mit Gedanken, die sich aus einer heutigen Haltung ergeben. Der Text begibt sich auf die Suche nach einer Erzählung als Macht über die Wahrheit. Eine Redegelegenheit, die Verena Lehner nie hatte.
Eine Gefahr für die vernunftgesteuerte Welt
Die Verurteilung wegen angeblichem Giftmord und die jahrelange Zeit in Haft stellen für uns ein tragisches Ende eines aktiven, selbstbestimmten und bisweilen aufrührerischen Lebens einer Frau des Beginns des 20. Jahrhunderts dar. Kristallisationspunkt, auf das sich unser Projekt aber hauptsächlich bezieht, ist die Tätigkeit Verena Lehners als Kartenlegerin und ihren dadurch entstandene Ruf der Wahrsagerin von Suhr. Was bedeutet es für eine ländliche bzw. kleinstädtische Gesellschaft, dass verschiedene Personen wiederholt Rat holen bei einer Kartenlegerin? Inwiefern ist die offene, proaktive Haltung einer Frau in jener Zeit eine Provokation für die vorherrschende patriarchale Herrschaftsordnung? Stellt eine weibliche sozial-psychologische Kraft eine übernatürliche Gefahr für eine vernunftgesteuerte Welt?