Deutschsprachige Erstaufführung, berührendes mitreissendes Musiktheater, grossartige Interpretinnen auf der Bühne. Unbedingt empfehlenswert!
Theater Basel | Die Bitteren Tränen ...
Kritik:
Nein, ein wohliges, geniesserisches Zurücklehnen war nicht möglich an diesem spannenden, aufwühlenden Opernabend im Theater Basel. Die Ohren, das Herz, das Gemüt und die Augen wurden ständig gefordert, standen unter Hochspannung, genau wie die Protagonistin, Petra von Kant.
Da ist zuerst einmal die farbige Musik des Komponisten Gerald Barry, die mit ihren ostinaten Rhythmen, ihrer grellen, von den Bläsern dominierten Tonsprache und ihrer an der Sprache angelehnten, oft ins Hysterische abgleitenden Gesangslinien das Ohr bis zur Schmerzgrenze fordert. Andererseits transportiert diese Musik einen überaus klugen Text, konterkariert und untermalt ihn, deckt Lügen und Doppelbödigkeiten auf und verhilft so der musikalischen Umsetzung der grossartigen Vorlage von Rainer Werner Fassbinder zu ihrer Berechtigung. Genau dies ist die Aufgabe des Musiktheaters, wenn es sich literarischer Textvorlagen annimmt und Barry meistert sie mit geradezu animalischem Instinkt. Er sagt selber, dass er aus dem Bauch heraus komponiert und keinen intellektuellen oder mathematischen Überbau benutzt. Das spürt man beinahe aus jeder Note. Auf Dauer wirkt diese laute, rhythmische Musik vielleicht für manche etwas ermüdend, doch entwickelt sie zugleich auch einen mitreissenden Sog. Erst als Petra von Kant nach ihrem Selbstmordversuch zur Selbsterkenntnis und zum vorübergehenden inneren Frieden findet, bevor sie sich wieder auf ihr ständig anwesendes Opfer Marlene stürzt, berührt auch Barry den Hörer mit zarteren Kantilenen der Holzbläser.
Das Sinfonieorchester Basel unter der Leitung des jungen Dirigenten Anton de Ridder meistert die Partitur ganz hervorragend, vom prägnanten Beginn, über das Unheil verkündende Donnergrollen, welches den ersten Kuss zwischen Petra und Karin untermalt, zu den musikalisch hoch interessanten Aktübergängen.
Das detailgetreue Bühnenbild (Ultz), welches die Atmosphäre der 70er Jahre so liebevoll auferstehen liess, und die exakte Personenzeichnung durch Regisseur Richard Jones begeisterten das Premierenpublikum zu Recht.
Die Goldene Palme des Abends jedoch gebührt der Darstellerin der immensen Titelpartie, der Kanadierin Rayanne Dupuis. Wie sie die Petra bis zur Selbstentblössung darstellte und dazu diese Tour de force auch musikalisch grandios meisterte, war schlicht atemberaubend. In Anbetracht der Tatsache, dass ihr nur zehn Tage Probenzeit vergönnt war, ist diese Leistung nicht hoch genug einzuschätzen. Bleibt zu hoffen, dass man die junge Sängerin nach diesem gewaltigen Schweizer Debüt noch öfter auf hiesigen Bühnen bewundern können wird. Doch auch die anderen Partien in diesem reinen Frauenstück waren allesamt hervorragend besetzt. Agata Wilewska als junge, lebenslustige und sowohl naiv-dümmliche als auch durchtriebene Karin konnte gleich zu Beginn mit der Erzählung vom Tod ihrer Eltern beeindrucken: Die Musik und die Stimme schraubten sich in schmerzvoller Art und Weise spiralförmig in schwindelerregende Höhen. Rita Ahonen als vornehm schadenfreudige Sidonie von Grasenabb überzeugte ebenso wie Eva Gilhofer als Mutter Valerie von Kant. Petras Tochter Gabriele wurde von Heike Heilmann mit wunderbar sauberen Spitzentönen und Staccati sowie intensivem Spiel ausgestattet. Linda Kitchen verlieh mit ungeheurer Bühnenpräsenz der stummen Rolle der ständig anwesenden Privatsekretärin Marlene eine ergreifende Tiefe. Ihr stummer Schrei am Ende der Oper rief wohl nicht nur beim Rezensenten Gänsehaut hervor. Berührend dann der Moment auf der Premierenfeier, als sich die Marlene der Oper und die Ur-Marlene aus dem Film von Rainer Werner Fassbinder, Irm Hermann, umarmten.
Fazit:
Zeitgenössisches Musiktheater auf höchstem Niveau, mitreissend, berührend, aber auch witzig und komisch. Hervorragende Umsetzung der literarisch-filmischen Vorlage R.W. Fassbinders durch den Komponisten und das Inszenierungsteam. Überragende Rayanne Dupuis in der Titelrolle.
Inhalt:
Petra von Kant ist eine erfolgreiche Modedesignerin. Doch ihr Leben ist geprägt von Einsamkeit und Langeweile. Da lernt sie die junge Karin kennen und verliebt sich in sie. Karin wird zu ihrer neuen Aufgabe. Sie verhilft dem Mädchen zu einer Karriere als Modell. Selbstbewusst geniesst Karin ihre Erfolge und weidet sich an Petras Eifersucht. Petra ertränkt ihre Ängste zusehends in Alkohol. So wie Karin ihre Langeweile. Als Karin Petra verlässt und zu ihrem Ehemann zurückkehrt, bricht Petra zusammen. Erst spät erkennt sie, dass ihre Liebe vor allem Besitzsucht war.
Werk:
Der Ire Gerald Barry hat diese Oper 2005 nach Rainer Werner Fassbinders 1971 uraufgeführtem und 1972 verfilmten gleichnamigen Theaterstück komponiert. Die Inszenierung der Uraufführung (eine Koproduktion mit der English National Opera, London) ist nun in Basel zu sehen.
Für art-tv: © Kaspar Sannemann, 5. Mai 2008