Kürzlich ist der gebürtige Japaner 87 Jahre alt geworden. Kein Hindernis noch immer jeden Tag mehrere Stunden klassisches Ballett zu unterrichten. Glück, so Inagaki, entspringt nicht zuletzt aus dem Streben nach Perfektion. Als Spezialist der russischen Waganowa-Methode wird er von seinen Schüler*innen zutiefst verehrt. Sein Leben war nicht immer leicht. Die Musik und der Tanz wiesen ihm den Weg. Dieser führte ihn aus Japan erst nach Paris und dann Zürich.
Tanzszene Schweiz | Fumio Inagaki | Tanzen, tanzen, immer nur tanzen
Fumio Inagaki war Ballettpianist und Tänzer am Opernhaus Zürich. Dort begann er vor rund 50 Jahren auch zu unterrichten. Das tut er bis heute.
Über die Musik zum Tanz
21. November 2019: Fumio Inagaki wird 87 Jahre alt. Für eine abendliche Geburtstagsfeier hat der in Taiwan geborene Japaner aber keine Zeit. Er unterrichtet, wie jeden Dienstag- und Donnerstagabend, an der Ballettschule für das Opernhaus eine «Open Class». Zwanzig bis dreissig Schülerinnen und Schüler im Alter von 15 bis 65 Jahren erwarten ihn da regelmässig. Ruhig, freundlich und mit geradezu unerbittlicher Präzision vermittelt er ihnen die weltberühmte Waganowa-Methode des klassischen Tanzes; Woche um Woche, Jahr um Jahr.
Sein Leben war nicht immer leicht. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg kehrten seine Eltern mit ihrem Sohn aus Taiwan nach Japan zurück – ausgerechnet nach Hiroshima, wo im August 1945 eine Atombombe alles zerstört hatte. Nur einen Monat nach ihrer Ankunft starb der Vater an einer Lungenkrankheit. Die Mutter hielt die Familie als Lehrerin über Wasser, sodass Fumio die Universität besuchen konnte. Dort liess sich der junge Mann zum Pianisten ausbilden, und dort sah er zum ersten Mal eine Aufführung in klassischem Tanz.
Hiroshima, Tokyo, Paris
Fumio war 18 Jahre alt und wusste sofort: Er wollte tanzen. Das Geld für den Unterricht verdiente er sich als Pianist in Night Clubs und Bars. Weil er seit frühster Kindheit stark im Sport gewesen war, lernte er rasch, sodass ihn sein Ballettlehrer in Hiroshima bald nicht mehr fordern konnte. Darum ging er nach seinem Uni-Abschluss als Pianist und Musiklehrer nach Tokyo, wo an der Ballettschule Gastlehrer*innen aus St. Petersburg unterrichteten. Als der Schule fünf Jahre später das Geld ausging und die russischen Tanzlehrer ausblieben, folgte Fumio Inagaki seinen Vorbildern nach Paris. Alleine in der grossen Stadt fand er schon nach wenigen Tagen Arbeit als Pianist und einen Platz an der Ballettschule der Pariser Oper. Alle seien sie da gewesen, erinnert sich Fumio: Der grosse Roland Petit, die unvergleichliche Zizi Jeanmaire … Er sah sie tanzen, auf der Bühne und im Ballettsaal.
Um die Stunden bezahlen zu können, schrubbte Fumio die Böden der Schule und half im Sekretariat – bis bekannt wurde, dass er Klavier spielt. Von da an war er auch Pianist in den Klassen seiner Vorbilder. Ihre Bewegungen haben sich bis ins kleinste Detail in sein Gedächtnis gebrannt. Das ist das Geheimnis seines Erfolgs als Pädagoge.
Kannst du helfen, Samurai?
Nach Zürich kam Fumio Inagaki am 15. Dezember 1967. Doris Catana, damals Ballerina am Opernhaus, heute Leiterin der Ballettschule für das Opernhaus, hatte ihn während eines Sommerkurses in Paris kennengelernt. Ihr Mann, Nicholas Beriozoff, der Ballettdirektor in Zürich, versuchte den damals knapp 34-Jährigen als Pianist zu kapern und machte ihm schliesslich ein Angebot als Tänzer im Corps de Ballett. So ebneten Fumios Musik-Kenntnis und sein Auge für die Bewegungsqualität der Waganova-Schule seinen Weg in den Trainingssaal. Denn «Papa» Beriozoff, wie Fumio ihn immer noch nennt, bat seinen «Samurai» schon bald um Mithilfe im Unterricht. So wurde aus dem Tänzer und Pianisten in den 1970er Jahren ein Ballettlehrer. Noch heute unterrichtet Fumio Inagaki drei Mal pro Woche am Opernhaus und zwei Mal pro Woche in einer Tanzschule am Limmatplatz. Dazwischen gibt er Privatstunden, oft für japanische Profitänzer*innen, die sich auf Prüfungen in aller Welt vorbereiten.
Glück in der Perfektion
Und man staunt, wenn er sagt: Auch wenn er «immer nur tanzen, immer nur tanzen» wollte, habe er stets auch andere Interessen gepflegt. In der japanischen Blumensteckkunst Ikebana brachte er es deshalb bis zum Meister. Wie die Blumen behandelt er auch die Menschen: mit grösstem Respekt. Sie sollen glücklich sein, wenn sie unter seinen Händen und seiner Anleitung zur Perfektion gelangen, sagt er in seinem immer noch stark japanisch gefärbten Deutsch: «Nicht, was sie können ist wichtig, sondern dass sie nach der Stunde glücklicher sind als davor». Seine Werkzeuge dazu sind die Musik und der Tanz, aber auch seine sanfte Unerbittlichkeit, mit der er Ausdruck, Arm- und Kopfhaltung korrigiert. Denn das Glück entspringt für Fumio Inagaki nicht zuletzt aus dem Streben nach Perfektion.
Text Nina Scheu