Perlende Koloraturen auf glitzernder Bühne – die Aufführung von Rossinis Spätwerk in Stuttgart garantiert Amüsement!
Oper Stuttgart | Le Comte Ory
Kritik:
Die kluge Programmgestaltung der Staatsoper Stuttgart zum Schwerpunkt GROSSE FRANZÖSISCHE OPER findet mit Rossinis selten gespieltem Werk einen fulminanten und hoffentlich nur vorläufigen Abschluss. Nach den TROJANERN von Rossinis Intimfeind Berlioz und Halévys JÜDIN (noch zu erleben am 18.05. | 31.05. | 08.06. | 21.06. | 05.07. | 20.07.) nun Rossinis dritte für Paris komponierte Oper. Der Kreis schliesst sich: Berlioz, der sonst nur Verachtung für Rossini übrig hatte, schätzte insbesondere das exquisite Terzett des zweiten Aktes und bezeichnete es als perfekte Musik, die Protagonisten der Uraufführung von COMTE ORY hoben sieben Jahre später die JÜDIN aus der Taufe.
Regisseur und Bühnenbildner Igor Bauersima (bekannt als Theaterautor, z. B. LUCIE DE BEAUNE für das Schauspielhaus Zürich) bot dem Publikum einen äusserst amüsanten und witzigen Opernabend, assistiert von der Kostümbildnerin Johanna Lakner und dem Video-Designer Georg Lendorff. Da Rossini und seine Librettisten in den beiden Akten eigentlich zweimal dieselbe Geschichte erzählen, spaltete das Inszenierungsteam das Geschehen in zwei Sichtweisen auf, auf eine von aussen und auf eine von innen. Im ersten Akt befinden wir uns auf einem Rummelplatz, Graf Ory ist der Guru (Eremit), der Betrüger, der die noch so gerne Verführbaren verführt, ganz Materialist. Im zweiten Akt ist er der Mystiker (die Nonne), der an die christliche Nächstenliebe appelliert. Marx’ Das Kapital gegen die Bibel, ein Gedanke, der sich auch im als abgegriffenes rotes Büchlein hervorragend gestalteten Programmheft spiegelt. Dieses Konzept funktioniert vor allem im zweiten Akt bestens. Da helfen die dankbaren Travestien (wollüstige Saufkumpanen als Nonnen verkleidet) natürlich mit. Wir befinden uns nun im Wellnessbereich von Adeles Villa, mit Pool (der hellblau ausgeschlagene Orchestergraben), allerlei technischem Schnickschnack und einer Gruppe verwöhnter Damen, die sich mit den Tücken der Technik, in diesem Fall der Fernbedienung, herumschlagen. Umwerfend komisch! Die nur scheinbar zufällig auf die glitzernden Lamettavorhänge projizierten Bilder (z. B. Leda und der Schwan, als sich Ory verkleidet als Schwester Colette, der Gräfin näherte) boten dem Publikum auch amüsante Bilderrätsel. Einzig im ersten Akt wechselten die Projektionen um das Bühnenportal herum etwas gar häufig, was zusammen mit den silbern und golden gleissenden Lamettavorhängen der Jahrmarktsbuden doch zunehmend die Augen ermüdete. Weniger wäre hier wohl mehr gewesen. Das sich drehende Karussell zum genialen Finale des ersten Aktes hingegen erwies sich als sehr stimmiger Einfall. Dazu die Armada der erzürnten Damen, die sich auf die betrügerische Bande des Grafen Ory stürzten und sich selbst von der weissen Fahne, mit welcher Karl Marx (Orys Erzieher, dargestellt und sehr gut gesungen von Matias Tosi) wedelte, nicht schrecken liessen.
Der Regisseur konnte sich auf ein junges, spielfreudiges und Koloratur gewandtes Ensemble verlassen. Der junge Tenor Angelo Scardina begeisterte nach anfänglicher Nervosität mit präziser Stimmführung und fulminanten Spitzentönen, die Rossini in fieser Häufigkeit und auch über dem hohen C liegend, in die Partitur gesetzt hatte. Als schleimig lasziver Eremit überzeugte er ebenso wie als lüsterne Schwester Colette. Ina Kancheva glänzte mit perlenden Koloraturen als Gräfin Adele, Tina Hörhold war der wendige Page Isolier mit warm klingender Mezzosopranstimme; Ezgi Kutlu holte aus der Vertrauten Ragonde musikalisch und darstellerisch alles heraus und wurde zu Recht mit grossem Applaus bedacht. Der Bassist Adam Kim als Gefährte Orys hatte seinen grossen Auftritt mit dem männlichen Nonnenchor im Weinkeller und meisterte diesen ganz hervorragend.
Das Staatsorchester Stuttgart unter der Leitung des Katalanen Enrique Mazzola bescherte uns einen beschwingten, heiteren Rossini mit delikaten Farbtupfern, wohl gesetzten Accelerandi und sauberen Pizzicati.
Doch ganz so heiter entlässt der Regisseur die Zuschauer nicht: Als befreiende Trompetensignale die Rückkehr der Kreuzritter (Ehemänner) ankündigen und Ory sich schnell und gedemütigt davonschleichen muss, werden die Glitzervorhänge zurückgezogen und kaltes Licht und unheimliche Nebelschwaden dringen ins heitere Ambiente. Die freudig erwartete Rückkehr der Männer erweist sich jedoch als falsche Hoffnung, die Typen in ihren verschmutzten Anzügen sind kaputt, ver- und zerstört von den Grauen des Krieges.
Fazit:
Ein hervorragendes, junges Ensemble in einer amüsant und doch tiefgründig inszenierten Komödie. Empfehlenswert.
Das Werk:
Rossini (wie auch Händel) war ein Meister im Recyclieren eigener Musik. Grosse Teile des COMTE ORY entnahm er seiner Festtoper IL VIAGGIO A REIMS. Für den zweiten Akt allerdings komponierte er viele Nummern neu, und die gehören zu seinen schönsten Einfällen.
Raffinierte Orchestrierung und subtile Ironie prägen die Partitur.
Inhalt:
Der wollüstige Graf Ory will von der kriegsbedingten Abwesenheit vieler Ehemänner im Land profitieren, verkleidet sich als Eremit und als Nonne, um sich so an die Frauen, welche ein Keuschheitsgelübde abgelegt haben, heran zumachen, wird aber immer wieder enttarnt und muss schliesslich von dannen ziehen, ohne zum Ziel gelangt zu sein.
Musikalische Höhepunkte:
Kavatine der Adele: En proie de la tristesse, Akt I
Finale Akt I
Trinkgelage der vermeintlichen Nonnen, das in religiöse Gesänge umschlägt, Akt II
Terzett Ory, Isolier, Adele: À la faveur de cette nuit obscure, Akt II
Für art-tv: © Kaspar Sannemann, 18. Mai 2008