Halévys berührendes Meisterwerk ist nun auch in Stuttgart zu erleben – ungekürzt!
Oper Stuttgart | La Juive
Kritik:
Schwerpunkt französische Oper im diesjährigen Spielplan der Staatsoper Stuttgart: Nach den grandiosen TROJANERN und vor Rossinis LE COMTE ORY stellt Stuttgart nun LA JUIVE zur Diskussion, und zwar in einer nahezu strichlosen Urfassung. Die bewegende Aufführung erreicht damit _Meistersinger_- oder _Tristan_-Länge; es spricht für alle Beteiligten, dass der Spannungsbogen nie abreisst, die Intensität im Verlauf des langen Abends sogar noch zunimmt.
Das Staatsorchester Stuttgart unter der Leitung des jungen (auch von Aufführungen in Luzern und St. Gallen bekannten) Dirigenten Sébastien Rouland erbringt eine wahrhaftig mitreissende Leistung. Schon die ersten zarten Farbtupfen, welche die Holzbläser in der Ouvertüre in den noch halb erleuchteten Zuschauersaal setzen, lassen aufhorchen. Verblüffend sind Dynamik, Präzision und Schwung; hier wurde zugleich engagiert und mit höchster Musikalität gearbeitet.
Das Inszenierungsteam (Regie und Dramaturgie: Jossi Wieler und Sergio Morabito, Bühne: Bert Neumann, Kostüme: Nina von Mechow) lässt die Handlung, wie im Libretto vorgesehen, in Konstanz spielen; jedoch in der Kleinstadt von heute. Auf der Drehbühne, zwischen Kirchenportal und putzigem Fachwerkhaus, wird eine alte mittelalterliche Historie während eines Volksfestes aufgeführt. Doch der Geist des Mittelalters und die Pogromstimmung springen auf die Ausführenden über, der Fanatismus richtet sich gegen den Juden Eléazar und seine (vermeintliche) Tochter Rachel. Die Fratze des Mobs wird – verstärkt durch Alkohol, demagogische Anführer und gruppendynamische Prozesse – immer brutaler und hässlicher. Parallel zu den sich immer stärker skelettierenden Bühnenenlementen demaskieren sich die Menschen dieser Kleinstadt, ihre Hypokrisie, ihr Fanatismus und ihre niedrigsten Instinkte treten zu Tage. Am bedrückendsten und zugleich wohl am schaurigsten ist der Gang des Pöbels zur Musik der Marche funèbre im fünften Akt: Nachdem dieser Pöbel – als Juden verkleidet – genüsslich das Haus des Eléazar geplündert hat, marschiert er johlend und gröhlend am Weihnachtsabend durchs Kirchenportal, in einer Formation, die an Deportationszüge von Juden zur Zeit der Naziherrschaft erinnert. Dadurch, dass in Stuttgart der vierte Akt vollständig gespielt wurde, wird die Handlungsweise des Juden Eléazar plausibler, sein abgrundtiefer Hass auf die Christen erhält eine logische Erklärung. Wieler/Morabito gehen dann allerdings im fünften Akt eigene Wege und entfernen sich vom Libretto: Eléazar selbst ist es, der seine Ziehtocher vor den Augen ihres leiblichen Vaters (Kardinal Brogni) erschiesst und sich anschliessend selbst richtet. Dieser jähe, unerwartete Schluss ist sehr hart und lässt uns auch ratlos zurück. Wie können wir solche Gewaltspiralen je unterbrechen?
Chris Merritt ist ein in Stimme und Spiel unglaublich präsenter und meist höhensicherer Eléazar, mit schneidender Schärfe und oft gequetschten Tönen drückt er seinen beissenden Sarkasmus aus. Dass er sich an die schwierige Stretta im vierten Akt (die man bei den letzten Neuinszenierungen in Zürich und Paris schmerzlich vermisste) wagt, ist ihm hoch anzurechnen. Es bleibt zu wünschen, dass sie ihm in den kommenden Aufführungen besser gelingen werde. Seine Tochter Rachel wird von Tatiana Pechnikova gesungen, ihr zartes Vibrato und ihr weites dynamisches Ausdrucksspektrum passen wunderbar zu ihrer inneren Unruhe. Catriona Smith beglückt als Eudoxie mit herrlich perlenden Koloraturen, ausdrucksstarker Stimme und witzigem Spiel. Liang Li singt den Brogni mit sonorem, wohlklingendem Bass. Seine Verzweiflung am Schluss wirkt sehr berührend. Ferdinand von Bothmer als feiger Léopold verfügt über eine wunderschön timbrierte Tenorstimme, vor allem die warm klingende Mittellage ist ein Ohrenschmaus. Die unangenehm hohe Tessitura dieser Partie bewältigt er auf hohem Niveau, wenn auch nicht ganz bruchlos.
Die von Kindern getanzte grosse Balletteinlage war das einzige wirkliche Ärgernis des Abends. Das war nun wirklich zu dick aufgetragen: Kinder als Kreuzritter bei der Eroberung Jerusalems, die sich gegenseitig umbringen, Kamele, die als Engel reinkarnieren, eine Araberin, die als Muttergottes wiederkehrt, samt weisser Parsifal-Taube … Dies eines von mehreren Opern-Zitaten, die in diese Inszenierung gepackt wurden (wie auch die Schlägerei aus den Meistersingern, die Anspielung auf das grosse Duett Amneris-Aida oder Eudoxie, die im Gefängnis als Fidelio-Leonore auftaucht …)
Grosser und verdienter Jubel des Premierenpublikums für alle Künstlerinnen und Künstler, das Inszenierungsteam und vor allem für den fantastisch klingenden und subtil agierenden Chor der Staatsoper Stuttgart, der mit seiner immensen Leistung die Aufführung erst recht zu einem Ereignis macht.
Fazit:
Unglaublich intensiver, packender und nachdenklich stimmender Opernabend. Dieses Werk gehört unbedingt zurück ins Repertoire – ungekürzt, wie in Stuttgart!
Werk:
Die Juli-Revolution im Jahre 1830 in Paris, die den endgültigen Sturz der Bourbonen und die erneute Machtergreifung des Bürgertums zur Folge hatte, blieb nicht ohne Auswirkungen auf Musik und Kunst. In ihrem Sog entstanden Werke, die sich kritisch mit der Rolle der katholischen Kirche im Staat und ihrem abstossenden Umgang mit Minderheiten auseinander setzten. Dazu gehören u.a. Meyerbeers „Hugenotten“ und Halévys „Jüdin“. Gustav Mahler zählte die einst so erfolgreiche Oper zu dem „Höchsten, was je geschaffen worden ist“.
LA JUIVE ist unbestreitbar ein Haupt- und Meisterwerk des 19. Jahrhunderts!
Inhalt:
Die Handlung spielt im Mittelalter in Konstanz. Der jüdische Goldschmied Eleazar und seine Tochter Rachel werden vom christlichen Mob immer wieder bedrängt; von geistlichen und weltlichen Herrschern wegen Ketzerei und Rassenschande angeklagt und verurteilt. Der Kardinal bietet Eleazar an, Rachel zu retten, wenn er und seine Tochter zum Christentum konvertieren. Doch beide nehmen lieber den Märtyrertod in Kauf. Im Augenblick der Hinrichtung Rachels enthüllt Eleazar, dass diese in Wirklichkeit des Kardinals verloren geglaubte Tochter war. Während der Kardinal zusammenbricht, geht Eleazar triumphierend in den Tod.
Musikalische Höhepunkte:
Brognis Plädoyer Si la rigueur et la vengence, 1. Akt
Léopolds Serenade Loin de son amie, 1. Akt
Rachels Romanze Il va venir, 2. Akt
Boléro der Eudoxie Mon doux seigneur, 3. Akt
Duette Rachel – Eudoxie, 3. und 4. Akt
Éléazars Arie Rachel, quand du Seigneur inklusive Stretta, 4. Akt
für art-tv.ch: © Kaspar Sannemann, 17. März 2008