Von ihnen erzählt das Stück «Amerika». Die aufwändige Open-Air-Produktion erzählt zwar eine besonders dramatische Episode der Schweizer Migrationsgeschichte, bleibt aber dennoch in erster Linie ein packendes Theatererlebnis mit 50 bühnenerprobten Laiendarsteller:innen. Die während der ganzen Spieldauer frei zugängliche Begleitausstellung «1854» bildet dabei nicht nur den informativen Rahmen zum Stück, sondern bietet auch unabhängig davon einen emotionalen Zugang.
MuriTheater bringt «Amerika» auf die Bühne
- Publiziert am 21. Juni 2023
Gegen 400'000 Schweizer:innen verliessen im 19. Jahrhundert ihre Heimat. Die meisten aus schierer Not.
Amerika | arttv Wertung
Mit «Amerika» ist Christoph Zurfluh ein gleichwohl heiteres wie berührendes Stück gelungen. Es ist spannend zu erfahren, wie vor rund 100 Jahren Schweizer Gemeinden arme Bürger:innen dazu gedrängt haben, auszuwandern, indem sie Ihnen die Reise bezahlten und sie mit falschen Versprechungen regelrecht aus ihrer Heimat vertrieben haben. Genauso gelungen wie das Stück selber, ist die Regie von Adrian Meyer. Der Klosterhof in Muri wird eindrücklich und stimmungsvoll bespielt. So macht Freilichttheater Sinn und dient nicht nur dem schönen Schein. «Amerika» ist mehrheitlich mit Laiendarsteller:innen besetzt. Sie überzeugen nicht zuletzt mit einer klaren, gut verständlichen Sprache. Anscheinend wurde grossen Wert auf die Textarbeit gelegt. Eine Wohltat. Alles in allem ist Amerika Freilichttheater wie man es in dieser Qualität in der Schweiz nur sehr selten zu sehen bekommt. Kein Wunder waren alle 18 Aufführungen in Windeseile ausverkauft.
Zum Stück – Lauter Wirtschaftsflüchtlinge
Muri, 1854: Die zweite Auswanderungswelle nach Übersee erreicht ihren Höhepunkt. Verlockende, oft geschönte Nachrichten «von drüben» und bittere Armut zu Hause wirken als Katalysatoren. 81 Murianer:innen wandern allein in diesem Jahr aus. Die meisten nach Amerika. Die wenigsten von ihnen freiwillig. Vom Exodus profitieren nicht bloss Auswandereragenturen, sondern auch die Gemeinde, die sich auf diese Weise ihrer ärmsten Mitglieder entledigt. Mittellose, die sich vom Acker machen, bekommen die Reisekosten aus der Armenkasse vergütet. Das ist billiger, als sie ein Leben lang durchzufüttern. «Amerika» – so der Titel des Freilichttheaters 2023 – erzählt die Freiämter Auswanderergeschichte des Jahres 1854 aus der Sicht des Unteragenten, dem etwas schmierigen Wirt Lonzi (Philipp Galizia), der im Auftrag einer grossen Auswandereragentur die Verträge abschliesst und dafür natürlich eine Provision kassiert. Sein Interesse, so viele Menschen als möglich ins «gelobte Land» zu spedieren, ist deshalb mindestens so gross wie das der Gemeinde. «Lonzi verkörpert aber keineswegs nur das Böse», erklärt Christoph Zurfluh, der Autor des Stücks, «sondern er ist ganz einfach ein Mensch, der zuerst für sich selber sorgt. «Die Welt», sagt er deshalb, «wird nicht besser, wenn es mir schlechter geht.» Im Grunde genommen, so Zurfluh weiter, seien wir Schweizer im 19. Jahrhundert genau das gewesen, was man heute in
gewissen Kreisen oft despektierlich als Wirtschaftsflüchtlinge bezeichnet. «Die Menschen haben ihr Land nicht als politisch Verfolgte verlassen, sondern deshalb, weil sie hier nicht die geringsten Perspektiven hatten.»
Alles, was berührt
Der Grund, weshalb MuriTheater im Sommer 2023 das Auswandererthema auf die Bühne bringt, liegt aber nicht in seiner offensichtlichen Aktualität, sondern vor allem in seiner Emotionalität: Es beinhaltet ganz einfach alles, was ein packendes Theatererlebnis ausmacht – von der Hoffnung auf das grosse Glück über den Abschiedsschmerz bis hin zu Intrigen, Wut, Trauer und bitterer Enttäuschung. Dass die Geschichte lokal verankert ist und quasi vor der Haustür spielt, macht sie nur umso berührender. Zweimal musste «Amerika», das bereits 2020 hätte uraufgeführt werden sollen, aufgrund der Pandemie verschoben werden. Beim dritten Anlauf klappt es nun. Die 50 Ensemblemitglieder sind seit Anfang Jahr am Proben, die Kostüme in Produktion, die Requisiten türmen sich. Es kommt Leben in den Murianer Theaterbetrieb. Entsprechend zuversichtlich zeigt sich Regisseur Adrian Meyer, der sich auch beim dritten Anlauf die gute Laune nicht verderben lässt. Grund dazu hat er: Trotz mehrmaligem Verschieben ist ein Grossteil der Laienschauspieler:innen nach wie vor dabei. Dasselbe gilt für das künstlerische Team.


