Die Thunerseespiele präsentieren noch bis am 23. August 2025 die Schweizer Erstaufführung des international erfolgreichen Disney-Musicals «Der Glöckner von Notre Dame» vor der Kulisse von Eiger, Mönch und Jungfrau in einer herausragenden Inszenierung, mit einem aussergewöhnlichen Bühnenbild und einem grossen Ensemble. Ein rundum gelungenes Ereignis, das einen unvergesslichen Musicalabend garantiert.
Kulturkritik: «Der Glöckner von Notre Dame»
- Publiziert am 19. Juli 2025
Kritik von Alain Ziehbrunner
Berührende Geschichte
Quasimodo, der Glöckner von Notre Dame, wurde als missgebildetes Findelkind im 15. Jahrhundert in Paris vom als Hexenmeister bekannten Dompropst von Notre Dame, Frollo, aufgenommen und als Glöckner ausgebildet. Der arme Kerl fristet ein einsames Dasein im Dom, sehnt sich aber nach dem Leben, das sich draussen in Paris abspielt. Als er eines Tages den Schritt wagt, und sich unter die Menschen mischt, wird er wegen seiner merkwürdigen Gestalt vom Volk gedemütigt. Nur die schöne Zigeunerin Esmeralda hat Mitleid mit ihm. Quasimodo verliebt sich augenblicklich in die schöne Frau, welche ihr Herz jedoch an den Hauptmann Phoebus verliert. Doch auch Dompropst Frollo verliebt sich in die Fahrende und wird rasend eifersüchtig, weil sie ihn nicht erhört: Er nimmt Esmeralda und Phoebus gefangen, da sie sich angeblich ihm – und somit dem Staat – widersetzten. Nun soll Esmeralda als Hexe verbrannt werden. Das lässt Quasimodo jedoch nicht zu: Trotz der enttäuschten Liebe befreit er die beiden und bringt seinen Meister um.

Quasimodogeniti
Als 29-Jähriger brachte Victor Hugo im Jahre 1831 seinen Roman «Der Glöckner von Notre Dame» heraus. Seine Hauptfigur soll angeblich von einem buckligen Steinmetz, der bei der Restauration der Pariser Kathedrale mitwirkte, inspiriert worden sein. Der Roman, der aufwendig die Kathedrale beschreibt und mehrere Handlungsstränge bis zum Jahr 1482 ineinander verwebt, wurde begeistert aufgenommen. Hugo wurde als «Shakespeare der Romane» gefeiert. Der erste Sonntag, der auf Ostern folgt – Quasimodogeniti – war Ursprung für den Namens des Hauptprotagonisten, der an diesem Tag auf den Treppen von Notre Dame gefunden wurde. Aufgrund der Figur von Victor Hugo wird der Begriff Quasimodo heute auch ein Synonym für eine missgestaltete oder deformierte Person verwendet. Der Roman diente als Inspiration für viele Adaptionen in verschiedensten Genres. So entstanden Bühnenwerke, Fernsehproduktionen, Hörspiele, Hörbücher und Verfilmungen. Der Walt-Disney-Zeichentrickfilm aus dem Jahr 1996 war schliesslich die Vorlage für das Musical, das bereits drei Jahre später erschien und 2017 völlig überarbeitet neu uraufgeführt wurde.

Ein mitreissendes Ensemble entführt nach Paris
Das Musical, so wie es aktuell in Thun zu sehen ist, besticht durch das Zusammenspiel und den Wechsel von Massen- und kleinräumigen Szenen. Das Ensemble, bestehend aus Profis und Laien, tritt mal dominant, mal die Solisten begleitend auf. Indem der Chor mit Ensemble Wasserspeier-Figuren zum Leben erweckt, sowie die lebensfrohen und bedrohlichen Szenen in Weite und Höhe des Bühnenbildes optisch und akustisch stimmig füllt, ist dieser der heimliche Star der Aufführung. Immer wieder sind wunderbare Stimmen herauszuhören, die nur darauf warten, entdeckt zu werden. Ein Riesenkompliment gehört den Hauptdarsteller:innen: Detlef Leistenschneider, mimt den herrschsüchtigen, dominanten und diabolischen Erzdiakon Frollo. Gesanglich und dank seiner beeindruckenden Bühnenpräsenz überzeugt er durchs Band. Seine Zerrissenheit zwischen Begierde und Sittenstrenge oder den offensichtlichen Widerspruch von Macht und Dienen verkörpert der Schauspieler in einer Klarheit, die die Zuschauenden in ihren Bann zieht. Quasimodo, der von der Welt isoliert aufgewachsene Glöckner, wird von Denis Riffel auf eine berührend-naive Art dargestellt, die sehr stimmig ist. Auch die Lieder, sind auf die über lange Zeit schwache und formbare Figur abgestimmt, sodass Riffels durchaus kraftvolle Gesangsfarbe nur selten zum Einsatz kommen darf, was nachvollziehbar, aber doch schade ist. Sharon Rupa zeigt ihre Wandelbarkeit in ihrer Rolle der Esmeralda: Ist sie in einer Szene quirlig und lebensfroh, wechselt sie mühelos zu einer mitleiderfüllten oder abweisenden Stimmung. Diese Bandbreite ist durch die Rolle vorgegeben und kommt beim Publikum an. So abwechslungsreich ihre Darstellung ist, so variantenreich singt sie auch und trifft damit die Herzen der Zuschauenden. Hauptmann Phoebus wird durch den grossgewachsenen Oliver Floris verkörpert. Gesanglich wie auch schauspielerisch überzeugt er durch eine klare Stimme. Er mimt natürlich in verschiedensten Gefühlslagen und wirkt dabei jederzeit authentisch. Ein Darsteller, dem man lange zuschauen und zuhören mag und mit dem man mitfühlt, wenn seine grosse Liebe stirbt. Der König der Bettler, Clopin, wird durch Frank Josef Winkels kraftvoll und einnehmend verkörpert. Er lädt zu Beginn des Stücks die Zuschauenden sympathisch mit einer Prise Schalk im Nacken zu einer Zeitreise ein. Er ist der Gegenspieler von Frollo, was in Stimmfarbe, Körperhaltung und Kleidung vortrefflich zum Ausdruck kommt. Der Schauspieler ist mit seiner Unmittelbarkeit der Sympathieträger des Stücks und kommt dementsprechend gut beim Publikum an.

Ein namhafter Schweizer Regisseur zeichnet verantwortlich
«Dank des renommierten Namens der Thunerseespiele in der Musicalszene konnten wir aus einer Vielzahl erfahrener Künstler:innen auswählen und eine erstklassige Cast für «Der Glöckner von Notre Dame» zusammenstellen», schwärmt Dominik Flaschka, welcher nach «Mamma Mia!» (2018) zum zweiten Mal für die Inszenierung in Thun die Regie übernimmt. Musicals, wie «Ewigi Liebi», «Mein Name ist Eugen» oder «Sister Äct», sind nur drei weitere schillernde Namen von einer ganzen Reihe hervorragender Bühneninszenierungen des Autors, Schauspielers, Theaterleiters und Regisseurs aus Rorschach. Er wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. viermal mit dem Prix Walo. Die Inszenierung von Flaschka besticht durch ihren Tiefgang und ist denn auch einer der Hauptgründe, warum Musical-Liebhaber:innen die Thuner Inszenierung nicht verpassen sollten. Seine Interpretation des Glöckners von Notre Dame kommt so ganz anders daher, als man es erwarten würde. Statt Bonbon-Farben und üppige Deko steht ein grosses Baugerüst auf der Bühne mit reduzierten Details. Inspiriert wurde es vom Wiederaufbau der Pariser Kathedrale, was zu Beginn des Stückes durch ein Plakat und moderne Bauarbeiter angezeigt wird. Die Zuschauenden werden sodann vom 21. Jahrhundert ins Spätmittelalter geleitet. Diese nüchterne Umgebung spielt mit dem Raum und setzt die Protagonist:innen ins Zentrum. Wie beim Gerüst, so kann man in die Figuren blicken und nimmt teil an ihrer Zerrissenheit und den inneren Kämpfen, die sie austragen. Dies schafft eine Tiefe, die man von Musicals nur selten geboten bekommt.
Fazit: Nach einem gelungen Musical-Abend verlässt man das Gelände erfüllt durch ein Erlebnis, geprägt durch ein Gesamtkonzept, hervorragende Leistungen aller Beteiligten und angeregt von der Frage, die zu Beginn und am Ende des Stückes formuliert wird: Wer ist ein Monster und wer ein Mensch?


