Die 1920er Jahre sind als Zeit einer kulturellen und technologischen Aufbruchsstimmung in Erinnerung geblieben und die musikalischen Werke, die aktuell in Zürich zu sehen sind, stehen unverkennbar dafür. Alle drei Choreografien stellen das Klavier prominent in den Mittelpunkt. TIMEKEEPERS ist ein überwältigender Tanzabend mit Werken, die vor genau einhundert Jahren uraufgeführt wurden.
Eine getanzte Ode an die 20er Jahre des letzten Jahrhunderts
Drei Stücke der Moderne
Mit der Musik von Igor Strawinsky und der Choreographie von Bronislawa Nijinska ist LES NOCES für fast 50 Tänzer:innen, gemischten Chor, vier Klaviere und Schlagzeugensemble ein Schlüsselwerk des Tanzes im 20. Jahrhundert. George Antheils bekanntestes Werk ist das rhythmisch vorantreibende BALLET MÉCANIQUE. Die renommierte australische Choreografin Meryl Tankard kreiert ihr erstes Werk für das Ballett Zürich in einer speziellen Version für Klavier und acht Lautsprecher. Die RHAPSODY IN BLUE ist zum musikalischen Ausdruck einer amerikanischen Identität geworden. Ein Jahrhundert nach der Uraufführung choreografiert Mthuthuzeli November, Shootingstar aus Südafrika, George Gershwins Klassiker für zwei Klaviere.
TIMEKEEPERS | arttv Kritik
von Felix Schenker und Georg Kling
Die 1920er Jahre waren nicht nur wild und golden, sondern auch ungeheuer innovativ und kontrovers. Das zeigen die drei Stücke im neuen Ballettabend von Cathy Marston.
LES NOCES
LES NOCES von Igor Strawinsky ist wohl die bekannteste Balletchoreografie, die innerhalt von TIMEKEEPERS, dem dreiteiligen Ballettabend im Opernhaus Zürich, zur Aufführung kommt und gilt als ein Schlüsselwerk des modernen Tanzes. Es wurde am 13. Juni 1923 von den Ballets russes in Paris uraufgeführt. Das Zürcher Ballett hat die Choreografie von Nijinska, der unterschätzten Schwester des Jahrhundert-Tänzers Vaclav Nijinsky, nun originalgetreu rekonstruiert. Das ist kulturhistorisch interessant, optisch allerdings etwas verstaubt. LES NOCES mutet wie ein «sowjetromantischer» Trachtentanz an. Das irritiert, in Zeiten, wo Russland das Völkerrecht mit Füssen tritt. Dafür zeitlos das Thema: Es wird geheiratet. Die Zöpfe der Braut verflechten sich kunstvoll in das Ballettensemble und lassen dieses gekonnt zu einer Art faszinierendem Köper-Geflecht werden.
BALLET MÉCANIQUE
Visuell überzeugt dafür George Antheils BALLET MÉCANIQUE ganz besonders. In FOR HEDY schwebt der Avatar der berühmten Hollywood Diva und Erfinderin Hedy Lamarr über die Bühne. Das Stück macht den Auftakt von TIMEKEEPERS und ist eine Reminiszenz an die damals angeblich schönste Frau Hollywoods. Lamarr soll optisch für Walt Disneys Schneewittchen Pate gestanden haben. Erfolg hatte sie nicht nur als Schauspielerin, sondern auch als Erfinderin einer Funksteuerung für Torpedos. Musikalisch ist BALLET MÉCANIQUE, 1926 in Paris uraufgeführt, eine Wucht. Flugzeugpropeller und Sirenen durchdringen den Klangteppich und peitschen die Handlung energetisch an. Shelby Williams in der Rolle der Hedy Lamarr ist umringt von zuckenden Körpern, die sich der brachialen und mechanistischen Musik hingeben. Die «schönste Frau der Welt» lässt sich mitreissen, bleibt aber dennoch erhaben und steht über allem. Eine mutige aber auch fordernde Choreographie.
RHAPSODIES
Die dritte Choreografie «Rhapsodies», basierend auf RHAPSODY IN BLUE von George Gershwin, wurde vom südafrikanischen Shooting-Star der internationalen Ballettszene, Mthuthuzeli November, ins Leben gerufen. Sie überzeugt, wie alle drei Darbietungen, dank der äusserst präzisen und dynamischen Tanzsprache des Ballett-Ensembles des Opernhauses Zürich. Die Uraufführung von Gershwins Musik war vor hundert Jahren, am 12. Februar 1924. Man staunt, wie modern und zeitlos diese Musik heute noch wirkt. Durch die Choreografie von November wirkt sie noch stärker. Am Premierenapplaus gemessen, dürfte RHAPSODIES denn auch der Publikumsliebling des Abends sein. Das liegt wohl daran, dass RHAPSODIES im Vergleich zu den zwei anderen Darbietungen regelrecht lieblich und fast schon konventionell wirkt. Musikalisch begeistern die immer neuen Klangvarianten bis hin zu afrikanischen Rhythmen. Der technisch ausgefeilte Tanz lädt die Zuschauer:innen dabei zum Träumen ein.
Fazit: Drei total verschiedene Stücke, nicht immer bequem, aber angenehm herausfordernd und extrem sehenswert.