In «Versuch über das Sterben» vereint Boris Nikitin zwei aktuelle Themen auf erstaunliche Weise. Der Basler Autor schreibt über die todbringende ALS-Erkrankung seines Vaters und verbindet dieses berührende Zwiegespräch mit radikalen Gedanken darüber, was es bedeutet, ein Coming-out zu vollziehen.
Versuch über das Sterben | Boris Nikitin
- Publiziert am 15. Juni 2021
Ein radikaler und zugleich intimer Text darüber, was es bedeutet, den Schritt in die Öffentlichkeit zu vollziehen.
Der Regisseur und Autor Boris Nikitin, in Basel geboren und Sohn ukrainisch-slowakisch- französisch-jüdischer Einwanderer, gilt als einer der wichtigen Theaterschaffenden des zeitgenössischen deutschsprachigen Theaters. Seine Inszenierungen, Texte und Happenings setzen sich seit über zehn Jahren mit der Darstellung und Herstellung von Identität und Realität auseinander. Sie sind Grenzgänge zwischen Illusionstheater und Performance, zwischen Dokumentarischem und Propaganda. Nikitins Arbeiten sind roh, frontal, dabei stets genau komponiert und immer nach den Grenzen und Bruchstellen des Ästhetischen suchend.
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Der Autor und Regisseur Boris Nikitin hat im September 2019 mit «Versuch über das Sterben» die Saison der Kaserne Basel eröffnet. In diesem zugleich radikalen und intimen Text schreibt Nikitin einerseits über sein Coming-out als homosexueller Mann vor zwanzig Jahren. Nach zwei leidenschaftlichen Sommern mit «einem doppelt so alten und doppelt so schweren Schauspieler» hat er seinem Umfeld und dann auch den Eltern erzählt, dass er schwul ist. Der heute 40-Jährige hat die wohl mächtigste aller Ängste, die einem Menschen antrainiert werden kann, erfolgreich überwunden: die Angst vor sich selbst.
Auf wunderbare Weise verbindet der 40-jährige Autor sein Coming-out mit der Geschichte seines Vaters, der unheilbar an ALS erkrankt. Von der Diagnose bis zu seinem Tod dauert es knapp ein Jahr. In dieser Zeit eröffnet er den Gedanken, einen assistierten Suizid in Erwägung zu ziehen, einen EXIT. Der Vater, ein Sportler, der seinen Körper als Forschungsgegenstand und chemische Fabrik begriffen hat, wehrt sich zu Beginn gegen das absehbare Szenario, unbeweglich seinem Ende entgegendämmern zu müssen. Die Entscheidung, diesen Weg mittels Sterbehilfe zu verkürzen, trifft er früh, verschiebt die Einnahme des Gifts jedoch von Monat zu Monat.
Vater und Sohn haben in entscheidenden Momenten dasselbe getan: Sie haben sich entgegen der Konvention für ihre eigene Wahrheit entschieden. Dieser Spur folgend erweitert Nikitin den Begriff des Coming-out: Jeder Mensch, der etwas Unausgesprochenes vor anderen veröffentlicht, vollzieht ein Coming-out. Dabei sei es völlig egal, ob es um seine oder ihre Sexualität geht, oder um das Bekenntnis eines Glaubens, oder den Wunsch zu sterben, oder das Zeigen eines Kunstwerkes, oder um eine unerwünschte politische Überzeugung, oder vielleicht sogar um die schlichte Äusserung eines unfertigen Gedankens. Der Autor sagt: «Wer nicht schweigt, bleibt auch nicht allein.» Für Nikitin heisst Mensch sein, verwundbar zu sein. Vom Vater habe er gelernt, dass auch das Sterben eine Form der Selbstermächtigung sein kann. «Wir könnten lernen zu leben, indem wir lernen zu sterben.»
Stimmen
«Ein unglaublich berührender und kluger Text.» – Milo Rau | «Wie wenig andere führt Boris Nikitin das Theater derzeit an einen kritischen Punkt.» – Theater heute
Text: Edition Frida