Romanfiguren sind üblicherweise Marionetten, der Willkür ihrer Schöpferin ausgeliefert. Dass es auch anders geht, zeigt die Schwyzer Autorin Judith Keller in ihrem Roman «Oder?». Ihre zwei Protagonistinnen fühlen sich «schlecht erzählt» und nehmen das Heft selbst in die Hand. arttv hat eine Szenische Lesung der Autorin besucht, an der sie gemeinsam mit dem St. Galler Puppenspieler und Regisseur Sebastian Ryser die Protagonist*innen zu Leben erweckt.
Judith Keller | Oder?
Ihr zweites Buch ist ein Fest der Fabulierlust, das sich hervorragend für Szenische Lesungen eignet
Zur Geschichte
Die Dinge, wie sie sind – darunter zum Beispiel Oerlikon oder die Elternschaft –, gehören neu verknetet. Dies ahnt Alice Kneter, die sich gemeinsam mit ihrer Freundin Léopoldine auf die Suche nach ihrem verschollenen Vater begibt und die Hauptfigur des Debütromans von Judith Keller hätte werden können. Aber weil Romane eh langweilig sind, passiert in diesem Buch etwas ganz anderes. «Oder?» ist das Manifest der Schweiz von morgen. Alles darin macht Sinn. Eine Frau, man sagt ihr nur Evelyn, betrachtet ein Kleid im Schaufenster und entdeckt im Geschäft plötzlich einen liegenden Mann. Dann gäbe es noch Colette, die dem Krankenkassendetektiv, der sie aus dem Auto beobachtet, einen freien Tag beschert. Darüber hinaus wird viel geredet, im Tram, am Bahnhof, bei den Luchswiesen.
Judith Keller (*1985 in Lachen SZ) hat in Biel und Leipzig Literarisches Schreiben studiert sowie Deutsch als Fremdsprache in Berlin und Bogotá. 2017 erschien ihr Debüt «Die Fragwürdigen» beim Verlag der Gesunde Menschenversand, für den sie eine Anerkennungsgabe der Stadt und des Kantons Zürich erhielt. Im Frühling 2021 erschien im selben Verlag ihr zweites Buch «Oder?».
Interview mit der Autorin im Rahmen der Veranstaltungsreihe Fridays for Literature (2021)
von Florian Bissig
Judith Keller, bei der Lektüre Ihres Romans «Oder?» kommt man zunächst in den Genuss einer Erzählung, dann einer Reihe von Prosavignetten. Darauf folgt ein Manuskript mit Durchstreichungen und Verbesserungen, und schliesslich franselt der Text regelrecht in allerlei fragmentarische und rätselhafte Formen aus: Ein schwieriger Text – einverstanden?
Nein! Ich glaube, dass man sich gleich von Beginn vom Anspruch verabschieden darf, alles darin verstehen zu müssen. Es ist vielleicht eher ein Trip. Wenn ich noch einmal zusammenfassen darf: Es beginnt mit einer Erzählung, in der die Figuren Alice und Charli bemerken, dass sie geschrieben werden. Nicht einverstanden damit, wie sie erzählt werden, und der Handlung müde, der die Erzählung eigentlich hätte folgen wollen, beschliessen sie, aus jenem Plot auszusteigen und ihren Autor namens Kneter – auch Vater von Alice – in Griechenland zu suchen. Später finden sie dann das Notizheft Kneters in einem Café. Darin befinden sich Sätze aus der ersten Erzählung, die sie durchstreichen und darunter andere Sätze schreiben. Im letzten Teil mit dem Titel «Oder?» füllen sie die leeren Seite des Notizheftes mit kurzen Texten oder einzelnen Sätzen. Man könnte es als eine Art Logbuch sehen, in dem sie ihre Reise kommentieren.
Das «Oder» steht also für ein Denken in Varianten?
Ja, der Titel des Teils «Oder?» ist eine Art fragender Kommentar. Die Figuren haben Lust, verschiedenen gleichzeitigen Realitäten Rechnung zu tragen. Es kommen dort verschiedene Zeiten vor und verschiedene «Ichs», die sich äussern. Manchmal spricht auch Kneter, manch-mal der Lektor Nöldi etc. Einige «Spuren» werden dort wieder aufgenommen, wie etwa die Suche nach Kneter oder auch die Suche nach den Müttern oder der Strang um Roger Federer. Alice und Charli suchen die Wahrheit eher in einer Bewegung, sind stark im Moment. Sie sind zu ungeduldig, zu beweglich und zu hochgestimmt, um ihre Kommentierlust, ihre Fest-stellungen klassischen narratologischen Regeln unterzuordnen. Sie sind irgendwie überall und gleichzeitig und stellen ihre Behauptungen auf, wie es ihnen gerade passt. Und dann haben sie auch Lust, immer wieder alles Aufgestellte über den Haufen zu, wie sie sagen würden: «rühren».
Wie sind Sie auf die Idee gekommen, die Protagonistinnen des Romans ihre eigene Geschichte diskutieren zu lassen?
Beim Schreiben komme ich oft in Verlegenheit. Ich schreibe einen Satz und denke: «Oder?…oder nicht?» Das beginnt schon bei der Namenssuche, beim Festlegen von Uhrzeiten, Orten, dem Wetter. Ich fühle mich unwohl bei diesen Entscheidungen, ein wenig lächerlich. Da ich dann, während ich gerade schreibe: «Es regnet», denke, dass ja genauso gut die Sonne scheinen könnte, habe ich dann begonnen, die Figuren kommentieren zu lassen, was ich gerade geschrieben habe. Wenn es also im ersten Text heisst «Sie hatten eine schlurfige Art zu gehen», kommentiert Alice: «Wegen mir nicht. Ich könnte auch ganz anders.»
Also machten Sie aus Ihrer Not eine Tugend…
Dass die Figuren ein Bewusstsein dafür haben, dass sie erzählt werden und sich dazu positionieren können, war für mich eine Erleichterung. Denn ich glaube ja, dass Erzählen immer ungerecht ist. Wahrscheinlich habe ich bei diesem Buch eine literarische Form gefunden für einen inneren Konflikt, den ich dann in den Text ausgelagert habe. Ich will einerseits eine Erzählung schreiben mit einer Handlung (wie Kneter im Text, der einen Roman über Roger Federer schreiben will), gleichzeitig widerstrebt mir dieser Vorgang wie Alice und Charli. Es langweilt mich, eine entworfene Handlung schreibend zu erfüllen. Es gibt da ein Verlangen, aus meinem eigenen Plan auszuscheren. Es ist, als ob die Sätze Lust hätten, ihre eigenen Wege zu gehen. Natürlich schreibe ich sie trotzdem selbst, aber ich versuche, mich selbst zu unterlaufen, und das macht mich dann erst wach und gibt mir Lust, weiterzuschreiben. Ich habe also versucht, in diesem Buch möglichst frei zu sein.
Alice und Charlie sind nicht zufrieden damit, wie sie erzählt sind: «Wir sind einfach schlecht erzählt.» Also schreiben sie ihre Geschichte kurzerhand um. Was ist das Motiv hinter diesem schwindelerregenden Vorgang?
Es ist eine Emanzipation. Es geht ja zuerst unter anderem auch um die Suche nach den Müttern. Also: Wenn sie schon erzählt werden, dann wären sie eigentlich lieber von Virginia Woolf erzählt. Gleichzeitig befürchten sie, nicht «genug vorzuweisen» zu haben, um von Woolf erzählt werden zu können. Weil das aber ein lähmender Minderwertigkeitskomplex ist, beschliessen sie, zuerst einmal zu tun, was möglich ist, nämlich ihren schlechten Autor Kneter zu suchen, um am Ende etwas vorzuweisen zu haben. Dann ändert sich alles. Auf der Reise beginnen sie ja dann selbst zu schreiben und werden damit gewissermassen selbst zu Müttern. Sie befreien sich also irgendwann von der Suche nach dem Vater und den Müttern; von ihrem ursprünglichen Plan. Am Ende verfolgen sie ja dann auch zum Beispiel Velos.
Kneter ist nicht nur der Autor, sondern zugleich der Vater von Alice. Ist «Oder?» auch ein Roman über eine Vatersuche?
Es ist eher eine Geschichte über eine belebende Reise. Das Suchen war der Auslöser für die Reise, diese lässt aber dann wie oben erwähnt das eigentliche Anfangsziel vergessen. Wie bei der Odyssee treibt es Alice und Charli lange immer wieder weg von ihrem Ziel: Kneter. Das ist so gewollt. Die Distanz ermöglicht die Emanzipation vom Vater/Autor, indem sie ja dann in seinem Heft über ihn schreiben. Und dann kommt noch viel anderes dazu. Einzelne Stränge blitzen wieder auf: Roger Federer, die Velos, die Gregorios etc. Einmal, als sie bei Kalypso landen, vergessen sie ja ihren Auftrag, Kneter finden zu wollen, und folgen dann eben den Velos. Es geht im Unterschied zur Odyssee auch um die Befürwortung des Vergessens, das Eingeständnis, nicht zu wissen, wer man genau ist. Das Herumirren wird genossen, wenn es auch stellenweise etwas Beklemmendes hat.
Ihr Roman ist durchdrungen von Anspielungen auf die Literaturgeschichte – etwa die «Odyssee», Virginia Woolfs «Orlando», Hölderlins «Hyperion», Max Frischs «Stiller» – und Schriftsteller der Gegenwart wie Raoul Schrott oder Christian Uetz. Ist er auch eine Auseinandersetzung mit literarischen Vätern und Vorvätern?
Sie sind sozusagen Teil des Materials. Hölderlin, weil im «Hyperion» eine Griechenlandreise stattfindet. Max Frischs «Stiller» kommt vor, weil Kneter von Alice und Charli als Autor beschrieben wird, der die Klassiker kennt und sich gerne mit ihnen in Beziehung setzt, ein guter Freund von ihm ist dann «Freund Schrott». Es ist gar nicht so, dass die erwähnten Autoren besonders wichtig sind für mich (ausser Woolf und vielleicht Uetz). Da sind einfach ihre Namen, die herumschwirren, oder ihre Sätze, die plötzlich an einer ganze anderen Stelle Platz nehmen wollen. Es ist, als hätte sie der heftige Nordwind aus der Odyssee hergeweht.
Das Buch ist auch prall an Verweisen auf die zeitgenössische Schweizer Lebenswelt, etwa auf die Geographie Oerlikons, auf Roger Federer oder auf Dialektausdrücke. Wieviel Zeitgenossenschaft steckt in «Oder?»?
Viel, ja. Oerlikon bestimmt, Uetz auch deswegen, weil er in Oerlikon wohnt. Roger Federer, weil man ja wirklich nicht um ihm herumkommt. Er ist ja überall, und er reizt mich, darum musste auch er in dieses Buch. Die Dialektausdrücke sammle ich zum Teil, schreibe sie auf, wenn ich sie höre, so wie ich auch andere Sätze solche sind, die ich irgendwo gehört habe. An den Dialektausdrücken mag ich, dass sie das «glatte» Deutsch unterwandern und man sie nicht erwartet. Sie sind ja viel zu auffällig, irgendwie borstig. Ich glaube, Alice und Charli schwingen sich an solchen Wörtern und Redewendungen auf, so sagen sie ja auch immer «fressen» anstatt «essen». Sie wollen ja überall Spuren ihres Ausbrechens hinterlassen, und diese Dialektausdrücke gehören wohl auf sprachlicher Ebene dazu.
Sie arbeiten mit sprachlichen Anspielungen, die teils gelehrt und tiefsinning, teils auch eher in der Kalauer-Schublade zu verorten sind – einverstanden? Ist es Ihnen ein Anliegen, die Grenzen von Hochkultur und Unterhaltung zu durchbrechen?
Ja, unbedingt. Ich verlese mich zum Beispiel oft. Und so werden die poetischsten Texte plötzlich lustig. Oder aus Roger Federer wird der Rote Federer. Kein Wort, kein Name ist davor gefeit, plötzlich etwas ganz anderes zu bedeuten durch den Vorgang eines bestimmten Lesens, und diese Gleichberechtigung gefällt mir. Die Erkenntnis, die dahinter glaube ich steckt, lautet ungefähr: «Nimm dich nicht so ernst, dein Name ist nur ein Wort.» Alles ist der Sprache ausgesetzt. Überall gibt es Störungen, Irritationen, Demütigungen und Erfrischungen und das macht das Leben interessanter. Je freier man mit der Sprache umgeht, denke ich, desto freier sind dann auch die Dinge. Es ist ein Irrtum, man könnte irgendetwas mit der Sprache «treffen». Und ja, ich mag auch schlechte Kalauer, obwohl ich mich sogar zurückgehalten habe, ich hätte noch viel mehr davon hineinschreiben wollen. Doch der Lektor hat mich zum Teil davon überzeugt, einige wieder rauszunehmen.
Ihr Buch ist eingeleitet mit einem Absagebrief ihres Verlegers Matthias Burki, der ein Manuskript ablehnt. «Der Hauptgrund: Es ist überhaupt kein Roman.» Ist denn nun «Oder?» ein Roman, so wie es das Titelblatt behauptet?
Ja, man möchte fast sagen: Ein Entwicklungsroman wie «Hyperion» oder «Wilhelm Meisters Lehrjahre». Die Figuren Alice und Charli entwickeln sich zu Autorinnen, die der Autorin Judith Magdalena Keller dann das Manuskript überreichen, das diese dann in den Briefkasten wirft. In diesem Sinn ist es ein Roman. Man könnte aber auch sagen: Es ist ein Epos wie die Odyssee, in dem es ein zyklisches Erzählen gibt – in dem es keine lineare Zeitordnung gibt.
Auch Ihr Lektor, Philipp Theisohn, wird in den Text verwickelt, und der Stand der Finanzierung ihrer Arbeit kommt zur Sprache. Sind ihre Arbeit am Buch und sein Entstehungskontext das eigentliche Hauptthema? Was bewog Sie dazu, einen derart selbstreflexiven Roman zu schreiben?
Das Hauptthema vielleicht nicht. Aber ich finde, dass die Entstehungsprozesse und Unsicherheiten, die einem Buch vorausgehen, zu selten vorkommen. Der Eindruck entsteht meistens, ein Buch sei fertig geschrieben vom Himmel gefallen, es hätte genau so werden müssen und nicht anders sein können. Es gibt eine Scheu vonseiten der Schreibenden, sich in die Karten blicken zu lassen und zuzugeben, dass man doch einfach nicht sicher ist, ob der Schluss jetzt so ausgehen soll oder anders. Das hat natürlich auch seinen Sinn, es ist ja gewissermassen auch spielverderberisch, immer zu zeigen, dass hier geschrieben wird. Aber ich finde es wichtig, immer zu zeigen, dass hier geschrieben wird und auch das Drumherum eines Buches hineinzunehmen.
Wozu auch ganz handfeste Produktionsbedingungen gehören…
Wenn keine Druckzuschüsse zugesprochen worden wären, dann hätte es ja auch das Buch nicht gegeben. Wenn ich nicht mit der oder der Person über dies oder jenes gesprochen hätte, wäre ich nicht auf diese oder jene Idee gekommen. Jedes Buch ist ja eingebettet in solche Zusammenhänge, ist ein Produkt von vielen Stimmen, auch ein Reagieren auf Sätze, die es schon gibt. Darum auch die ganzen Bezüge. Bei dem Teil «Die schwierigen Töchter oder die Entführung Roger Federers aus dem Serail» werden ja die einzelnen Sätze, die oben auf der Seite stehen, unten noch einmal in Versform miteinander verbunden. Das waren sozusagen zwei Entwicklungsschritte. Und da ich mich nicht entscheiden konnte, welche Variante mir besser gefällt, der Lektor aber unbedingt für die zweite Variante war, habe ich beide stehen gelassen und das im Text so festgemacht, dass Alice unbedingt ihre klassische Bildung zum Ausdruck bringen will (sie repräsentiert dann im Buch den Lektoren), was Charli (in diesem Fall: ich) dann halb widerwillig, halb tolerant, (weil ja auch Alice und Charli nicht immer einer Meinung sind) geschehen lässt. In diesem Sinn fand ich es wichtig, dass der Lektor auch erwähnt wird: Kneter überlegt sich ja, ob er zu ihm wechseln soll. Dass der von mir erfundener Autor Kneter zu meinem echten Lektor wechseln will, das sind einfach Dinge, die mir beim Schreiben Vergnügen gemacht haben.
Apropos Lektor: Philipp Theisohn schreibt in seinem Nachwort, er hätte die Kontrolle über ihren Schreibprozess verloren. Haben Sie selbst Kontrolle behalten?
Ich könnte gar nicht schreiben, wenn ich sie jederzeit behalten würde. Es geht darum, einen fruchtbaren Umgang zu finden mit diesem Kontrollverlust. Diesen dann wieder einzuholen. Am Ende natürlich schon, da hatte ich sie wieder, aber zwischenzeitlich fühlte ich mich schon auch auch auf einer Odyssee, die mir aber viel Freiheit gestiftet hat.
Welchen Zugang zu Ihrem Text empfehlen Sie der interessierten Leserschaft? Sollte man Ihren Roman als Knobelaufgabe auffassen?
Ich hasse Knobelaufgaben! Nein, ich wünsche mir, dass man das Buch leicht lesen kann. Ich empfehle, sich vor allem auf die Stimmung von Alice und Charli einzulassen, auf den Wind der Odyssee, der darin weht. Als ob man durch ein Wetter ginge, das sich schnell verändert.
Zentrale Aspekte des Buchs erschliessen sich nur, wenn man den Text vor sich hat – zum Beispiel durchgestrichene Passagen oder spezielle Schriftsätze. Was tun Sie, damit ihr Text auch in einer Lesung wirkt?
Ja, das ist eine gute Frage. Ich werde sicher mit Klängen arbeiten und zur Buchvernissage auch noch mit einem Schauspieler. Und einige Sachen werde ich auch nicht vorlesen oder eben sagen: Dieser Satz ist im Buch durchgestrichen. Ich werde wohl nicht darum herumkommen, den Aufbau des Buches bei Lesungen zu thematisieren.
Interview: Florian Bissig im Auftrag vom lit.z Literaturhaus Zentralschweiz