Zum Auftakt der 78. Ausgabe des Locarno Film Festivals erinnerte uns dessen Präsidentin Maja Hoffmann mit Nachdruck daran, dass das Kino nicht nur eine Unterhaltungsfabrik ist. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes «ein Wunder». Ein Wunder der Existenz, ein Wunder der Weitergabe, ein Wunder des Widerstands. Denn jenseits der Leinwand trägt jeder Film die Spuren eines Kampfes. Ein Kampf gegen das Vergessen, gegen die Gleichgültigkeit, gegen die Resignation.
Manöverkritik Locarno Film Festival 2025
- Publiziert am 19. August 2025
Die 78. Ausgabe des Locarno Film Festivals oder das Kino als Aufforderung zu Empathie und Handeln
LOCARNO 78 | BILANZ
Von Djamila Zünd
Dieses Unterfangen wurde durch die Auswahl der diesjährigen Filme eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Die Auswahl war vielfältig und reichhaltig und bot ein breites Spektrum: anspruchsvolle Autorenfilme, sinnliche und landschaftliche Entdeckungen, intime Familiengeschichten, aber auch Einblicke in die Folgen des Krieges und die Tragödien der Gegenwart. Und als wollten sie uns daran erinnern, dass die Leinwand niemals unempfindlich gegenüber der Realität ist, tauchten während des gesamten Festivals friedliche Demonstranten auf, ausgestattet mit palästinensischen Flaggen, die ruhig durch die Menge gingen oder am Eingang des Festivals neben dem Ticketschalter standen. Sie wollten damit auf die kollektive Passivität aufmerksam machen, die den Teufelskreis der Gewalt nährt und die uninformierten Massen gegen ihren Willen zu unfreiwilligen Akteur:innen künftiger Katastrophen macht.
Der Film UN SIMPLE ACCIDENT von Jafar Panahi erkundet genau diesen Moment, in dem das Alltagsleben eine verhängnisvolle Wendung nimmt. Gleichzeitig übernimmt er die moralische Verpflichtung eines Filmemachers gegenüber den Menschen, denen er hinter Gefängnismauern begegnet ist. In Locarno wurde der Film zusammen mit seinem Freund und Mitarbeiter Mohammad Rasoulof (DIE SAAT DES HEILIGEN FEIGENBAUMS) präsentiert, der ebenfalls im Exil lebt, nachdem er zu acht Jahren Haft verurteilt worden war. Er erhielt den ersten Premio Locarno Città della Pace (Friedenspreis der Stadt Locarno). Das Publikum auf der Piazza Grande war zutiefst bewegt durch ihr gemeinsames Zeugnis: Berichte über iranische Gefängnisse, physische und psychische Folter, aber auch über die unerschütterliche Beharrlichkeit, trotz allem zu protestieren, Widerstand zu leisten und zu filmen. Nach der Vorführung erhielt Jafar Panahi, der auf der Piazza Grande geblieben war, um die Vorführung mit dem Publikum zu erleben, Standing Ovations.
Auch die französisch-iranische Schauspielerin Golshifteh Farahani gab mit ihrer engagierten Rede anlässlich der Verleihung des Excellence Award Davide Campari den Ton für das Festival vor. Sie erinnerte daran, dass Kino und Kunst angesichts der Konflikte und der Dunkelheit in der Welt eine positive Kraft und eine Quelle des Lichts sein können. Sie würdigte den Mut junger iranischer Frauen, die sich dem Regime widersetzen, und brachte ihre Hoffnung zum Ausdruck, dass die Freiheit der Iraner von innen kommen möge. Sie kritisierte eine Welt, die von «testosterongesteuerten Teenagern» dominiert werde, und betonte die wichtige Rolle der Kultur als Widerstandskraft. Ihren Preis widmete sie all jenen, die Unterstützung brauchen.
Von Gaza über Beirut bis hin zu iranischen Gefängnissen und durch Bombenangriffe zerstörten Dörfern zeigt das Festival Geschichten, die nicht nur die Realität widerspiegeln. Diese Werke werden zu wahren Empathieträgern und rufen zum Handeln auf. Für die Zuschauer und Zuschauerinnen ist es eine Einladung, über ihre eigenen Erfahrungen hinaus zu fühlen. Für die Filmemachenden ist es ein Lebenselixier – der Beweis, dass Kunst dem Unaussprechlichen Gestalt geben kann. In dieser Perspektive erhalten die Worte von Maja Hoffmann ihre ganze Bedeutung: Ja, das Kino ist ein Wunder. Denn es stellt, wenn auch nur vorübergehend, das wieder her, was politische Misswirtschaft und Krieg zu zerstören versuchen.
Renommierte Gäste würdigen das Autorenkino
Das Locarno Film Festival hat einmal mehr gezeigt, dass Filmfestivals über ihre Rolle als künstlerisches Schaufenster hinauswachsen und zu echten Orten der Kulturdiplomatie werden.
Die Anwesenheit von Jackie Chan, dem Preisträger des Pardo alla Carriera, verdeutlichte diese symbolische Dimension perfekt. Der Hongkonger Schauspieler, der für seine einzigartige Kunst der choreografierten Kampfkunst gefeiert wird, in der er Humor und körperliche Höchstleistungen verbindet, verkörpert vor allem eine universelle Vorstellung: die des Underdogs, der durch Beharrlichkeit triumphiert. Seine spontane Grosszügigkeit gegenüber dem Publikum (mit langen Gesprächen und improvisierten Autogrammstunden) erinnerte daran, dass populäre Filme eine echte Lebensphilosophie aus Leidenschaft, Disziplin und Ausdauer vermitteln können.
Gleichzeitig stellte Lucy Liu, die mit einem Career Achievement Award ausgezeichnet wurde, ihren neuen Film ROSEMADE vor. Leider wurde sie auf der Piazza Grande zweimal unter dem Namen «Lucy Lu» auf die Bühne gerufen, eine falsche Aussprache, die bei Fans und Kinoliebhabern für Stirnrunzeln sorgte. Dennoch hinterliess die Schauspielerin mit ihrer Erklärung bei der Preisverleihung einen bleibenden Eindruck: «Ich habe das Gefühl, dass ich gerade erst am Anfang meiner Karriere stehe.» Mit ihren unvergesslichen Rollen in Kultfilmen wie CHARLIE’S ANGELS, KILL BILL VOLUME 1 und der Serie WHY WOMEN KILL beweist sie ihre bemerkenswerte Vielseitigkeit. Ihre Aussage lässt uns davon träumen, was sie uns in Zukunft noch bieten wird, und offenbart gleichzeitig eine zeitgemässe Neudefinition der künstlerischen Laufbahnen in Hollywood. Sie unterstreicht auch den Weg, den sie in einer Branche zurückgelegt hat, die sich der Vielfalt lange verschlossen hatte. Ironischerweise erinnert der Vorfall mit ihrem Namen daran, dass der Weg zu echter Anerkennung noch lang ist.
Willem Dafoe (THE BIRTHDAY PARTY), Emma Thompson (THE DEAD OF WINTER) und Alexander Payne bereicherten das Programm. Der begeisterte Cineast war nach eigenen Angaben gekommen, um «das Festivalarchiv zu geniessen und so viele Filme wie möglich aus der Retrospektive zu sehen». Das Festival ist ein Ort, an dem künstlerischer Anspruch auf Volksnähe trifft. Zwischen internationaler Anerkennung und handwerklicher Cinephilie hat diese Ausgabe das empfindliche Gleichgewicht aufrechterhalten, das die einzigartige Identität des Tessiner Festivals bildet.
Unsere Favoriten
Mit SENTIMENTAL VALUE setzt Joachim Trier seine Erforschung innerer Brüche fort. Die Schwestern Nora und Agnes stehen einem charismatischen Vater gegenüber, der in der Öffentlichkeit strahlt, aber im Privaten ein beunruhigendes Paradox offenbart: Er ist unfähig, seinen Töchtern seine eigenen Gefühle mit derselben Klarheit zu vermitteln, die er in seinen Filmen an den Tag legt. «Ich interessiere mich für ein Kino der Intimität, das nahe an das Gesicht herantritt und die menschliche Erfahrung aufrichtig beobachtet», erklärt der Regisseur. Dieser Film erforscht die Spannungen zwischen kindlicher Liebe und dem Bedürfnis nach Emanzipation – zwischen Erbe und Bruch. Trier betont in seinem Werk die Verantwortung der Älteren: Sie sollen ihr Erbe weitergeben, aber erst, nachdem sie ihre Vergangenheit verarbeitet haben, um sie ohne Trauma weitergeben zu können. Hier werden die Theaterbühne und das Filmset zu kraftvollen Metaphern. Erleben und deuten Sie es selbst. Ein Film, den Sie nicht bereuen werden! Absolut sehenswert.
Jean-Stéphane Bron bietet mit LE CHANTIER eine politische Interpretation des Kinos anhand einer konkreten Metapher: dem Bau eines Gebäudes. Hinter der scheinbaren Neutralität einer Dokumentation über die Renovierung eines legendären Kinos offenbart der Film die Machtverhältnisse, Hierarchien und Interessenkonflikte, die jedes Gemeinschaftsprojekt prägen. Renzo Piano, Jérôme Seydoux, die Ingenieure, die Arbeiter: Jeder verkörpert eine Position in diesem Mikrokosmos, in dem sich die Spannungen zwischen Vision, Geld und Arbeit widerspiegeln. Humor ist allgegenwärtig, aber er lockert das Thema nicht auf, sondern macht es zugänglich und unterhaltsam. Dieser Ansatz ermöglicht es dem Publikum, die komplexen Abläufe des Projekts spielerisch zu entdecken. Gleichzeitig werden subtil die oft verborgenen Mechanismen jedes Gemeinschaftsprojekts aufgedeckt.
Mit BLUE HERON liefert Sofia Romvari ein feinfühliges Werk über das Familiengedächtnis, in dem das Intime die Form einer filmischen Untersuchung annimmt. Anhand von Sasha, der jüngsten einer Geschwistergruppe, hinterfragt die Regisseurin die Weitergabe, die Zerbrechlichkeit von Erinnerungen und deren Fortbestehen durch die Kunst. Das sommerliche Licht, die engen Bildausschnitte und die Durchlässigkeit zwischen Vergangenheit und Gegenwart bilden einen sinnlichen Stoff, der über die einfache Erzählung hinausgeht. «Ich wollte die Erwartungen an eine traditionelle Lehrgeschichte durchbrechen», erklärt Sofia Romvari. So wird der Film zu einer Reflexion über die Rolle des Kinos als Akt der Erinnerung, aber auch als Instrument der Emanzipation: Die erwachsene Sasha, die Filmemacherin geworden ist, rekonstruiert ihre Geschichte durch das Filmen, und es ergeben sich neue Interpretationsmöglichkeiten ihrer eigenen Geschichte. Die positive Resonanz auf den Film zeigt sich bereits in den Frage-Antwort-Runden mit dem Publikum, wobei einige Zuschauer:innen diese Erfahrung mit der von Denis Villeneuves INCENDIES vergleichen. Ein intelligenter und kreativer Film, der beweist, dass das Intime, wenn es mit Aufrichtigkeit und Genauigkeit behandelt wird, etwas Universelles erreichen kann.
Schliesslich zeigt THE PLANT FROM THE CANARIES von Ruan Lan-Xi May, eine dreissigjährige Koreanerin, die nach einer Trennung in Berlin umherirrt. In dieser Chronik des inneren Exils wird die Stadt zum Spiegel der zeitgenössischen Einsamkeit. Der Berliner Winter, die Kontrollen der Verkehrsbetriebe und die unpersönlichen Wohnungen stehen im Kontrast zu kleinen Gesten der Solidarität: Radtouren, improvisierter Tangotanz, gemeinsam auf dem Sofa gegessene Clementinen. Diese Momente spiegeln eine soziale Wahrheit wider: Entwurzelung ist auch eine kollektive Erfahrung, in der sich Identitäten neu formieren. Indem sie Erzählungen auf Koreanisch über ihre Kindheitserfahrungen mit ihrer heutigen Realität verwebt, offenbart May die Lebensumstände einer Exilantin. In der Rolle einer Filmemacherin bietet sie zudem eine metaphorische Mise en abyme des filmischen Schaffensprozesses.
Fazit: Ein Festival zwischen Erinnerung und Wiedergeburt
Wir wollen diese 78. Ausgabe des Locarno Film Festivals nicht beenden, ohne die mit Spannung erwartete Rückkehr von Abdellatif Kechiche mit MEKTOUB, MY LOVE: CANTO DUE zu erwähnen. Nur fünf Monate nach seinem Schlaganfall konnte der französisch-tunesische Filmemacher nicht nach Locarno reisen, um an der Weltpremiere seines Films teilzunehmen. Dieser wurde parallel zu CANTO UNO (2018) und dem umstrittenen INTERMEZZO gedreht, der 2019 in Cannes vorgestellt wurde. Dieser dritte Teil, bei dem lange nicht klar war, ob er veröffentlich werden kann, knüpft an das sinnliche und sinnliche Universum an, das die Stärke des Films ausmacht: die Energie einer Jugend auf der Suche nach Begierden, Freiheiten und einfachen Freuden, gefilmt im grellen Licht des Sommers in Sète.
Als Kontrapunkt endete die Ausgabe mit dem Triumph von ROSEMEAD. Der mit dem Publikumspreis ausgezeichnete Film von Eric Lin wird kraftvoll von Lucy Liu und Lawrence Shou getragen. Er thematisiert das Tabu der psychischen Gesundheit in asiatischen Gemeinschaften. Die Schauspielerin möchte «die Scham durchbrechen» und ermutigt dazu, mit seinen Angehörigen zu sprechen und Fachleute zu konsultieren, wenn «es nicht gut läuft». Der Film schlägt damit eine heilsame Bresche in die kulturellen Darstellungen. Wie Lucy Liu betont: «Lassen wir die perfekten Darstellungen in den sozialen Netzwerken hinter uns» – das Leben ist viel komplexer.
Damit geht ein Festival zu Ende, bei dem 224 Filme gezeigt wurden, darunter 101 Weltpremieren, und das eine Retrospektive zum britischen Kino der Nachkriegszeit (1945–1960) bot. Zwischen Wiedergutmachung, Erinnerung und Erneuerung bestätigt Locarno seine Rolle: nicht nur als prestigeträchtiger Schauplatz, sondern als Ort, an dem Kunst auf Realität trifft, Ästhetik mit Ethik in Dialog tritt und Filme zu Laboren der Gesellschaft werden. Die nächsten Termine stehen bereits fest: Die 79. Ausgabe findet vom 5. bis 15. August 2026 statt. Bis dahin bleibt eines sicher: In Locarno begnügt sich das Kino nie damit, zu unterhalten. Es verstört, es hinterfragt, es heilt. Es bleibt, wie Maja Hoffmann in ihrer Eröffnungsrede betonte, «ein Wunder»!