Armut zeigt sich in der wohlhabenden Schweiz oft erst beim genaueren Hinsehen. Der Wettbewerbsbeitrag der Schweizamerikanerin Jasmin Gordon macht sie zum zentralen Thema. LES COURAGEUX feierte seine Weltpremiere am Toronto International Film Festival 2024 und schaffte es da in die offizielle Auswahl. Am Zurich Film Festival gehört er zu den wenigen Schweizer Filmen im Wettbewerb und im Festivalprogramm generell.
LES COURAGEUX
LES COURAGEUX | SYNOPSIS
Eine alleinerziehende Mutter im Kanton Wallis kämpft verzweifelt um ihre finanzielle Existenz und versucht, ihren drei Kindern vorzugaukeln, dass alles in Ordnung ist. Um den Schein eines normalen Lebens zu wahren, gerät sie immer tiefer in die Kleinkriminalität und verliert nach und nach das Vertrauen der Behörden.
LES COURAGEUX | WEITERE STIMMEN
«LES COURAGEUX ist ein gelungenes Erstlingswerk und ein überzeugendes Stück filmischen Sozialrealismus.» – Cineuropa | «Eine berührende Comédie humaine über Armut in der reichen Schweiz, die man oft erst auf den zweiten Blick erkennt. Die charismatische Ophélia Kolb trägt den herzerwärmenden Film mit einer grossartigen Leistung als Hauptdarstellerin.» – ZFF
Jasmin Gordon wurde in Los Angeles geboren und ist Doppelbürgerin mit Herkunft aus der Schweiz und den USA. Sie studierte Literatur und Fotografie in den USA und Frankreich und schloss ihren Master in Dokumentarfilm an der Stanford University ab. Ihre Kurzfilme, PARIS 1951 (2005) und FRAMEWORK (2018), wurden an zahlreichen Festivals gezeigt und sie hat für Ihr Werke unter anderem den Princess Grace Foundation Award erhalten. LES COURAGEUX ist Jasmin Gordons Debüt-Spielfilm.
Rezension
Von Ondine Perier
Der erste Spielfilm der schweizerisch-amerikanischen Regisseurin Jasmin Gordon, LES COURAGEUX erkundet mit Feingefühl die Prekarität und den Mut von Jul. Die alleinerziehende Mutter von drei Kindern lebt im Wallis. Der Film wurde im Wettbewerb des Zurich Film Festivals gezeigt. Das Drehbuch dazu wurde im Script Lab in Turin entwickelt. In den ersten Szenen begegnet man einer alleinerziehenden Mutter, die ganz allein darum kämpft, ihren drei Kindern trotz allgegenwärtiger finanzieller Schwierigkeiten ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen.
*Prekäre Schweiz *
Das in strahlendes Licht getauchte Wallis wird zum Schauplatz von Ausflügen, bei denen die Geschwister die Schule schwänzen, um am See zu baden, wie es ihre unbekümmerte Mutter vorschlägt. Diese scheinbare Leichtigkeit steht im Gegensatz zur düsteren Realität einer Frau, die trotz ihrer prekären Lage alles daran setzt, ihren Kindern ein angenehmes Leben zu ermöglichen. Sie bricht das Gesetz, stiehlt in Supermärkten oder schleicht sich heimlich in Häuser, die zum Verkauf stehen, und lässt ihre Kinder glauben, dass sie diese bald besitzen werden. Diese Mutter wird von Ophélia Kolb mit verblüffender Präzision gespielt. Sie verkörpert eine mutige Frau, die entschlossen ist, ihre Kinder vor der Last ihrer Situation zu schützen. Visuell ist der Film grossartig und bietet ein schönes Licht, das trotz der düsteren Umstände Hoffnung symbolisiert. Wir folgen dieser Mutter in ihrem Auto, die bereit ist, alles zu tun, um ihre Würde zu wahren und ihren Kindern glücklich zu machen. Der Film feiert die Heldinnen des Alltags: die Frauen, die im Verborgenen für ihre Familien kämpfen. In LES COURAGEUX inszeniert Jasmin Gordon eine Wolfsmutter, die bereit ist, ihre Krallen auszufahren, um ihre Familie zu schützen.
Bemerkenswerte Besetzung
Ophélia Kolb ist in ihrer Rolle überwältigend. Es gelingt ihr, die Empathie für diese ausgegrenzte Frau zu wecken, die alles tut, um die Würde ihrer Familie zu bewahren. Ihre zerbrechlichen Momente, ihre Wutausbrüche und ihre Selbstaufopferung erinnern an komplexe Mutterfiguren wie die aus dem Film EMA von Pablo Larraín. Sie ist es, die Jasmin Gordon als eine ihrer Inspirationen nennt. Man denkt auch an Virginie Efira in RIEN À PERDRE, wo der mütterliche Mut ähnlich intensiv auf die Probe gestellt wird. Hier vermeidet Jasmin Gordon gekonnt Pathos: Ihre Heldin steht zwar manchmal am Rande des Abgrunds, wird aber von einem starken Mantra geleitet: «Wer mutig ist, ist frei.» Die drei wunderbar gespielten Kinder sind in ihrer Beziehung zu ihrer Mutter rührend. Keines der Kinder verfällt in Verurteilung oder Verdammung, selbst die älteste Tochter im Teenageralter bleibt loyal und liebevoll, obwohl sie sich der Schwierigkeiten bewusst ist. Die bedingungslose Liebe ist in dieser Familie spürbar und steht im Gegensatz zu der ständigen Anspannung, dass ein Fehltritt der Borderline-Mutter ihr Schicksal wenden könnte.
Fazit: Wenn man aus dem Kino kommt, ist man tief bewegt von der Aufrichtigkeit des Films und beeindruckt von der Kunstfertigkeit, mit der dieser erste Spielfilm so sensibel, gerecht und brillant gestaltet wurde. Die Kraft des Films liegt auch in dem grossen Raum, den die Regisseurin der Vorstellungskraft der Zuschauer:innen einräumt: Das Geheimnis um die Vergangenheit Juls verdichtet sich nach und nach, ebenso bieten einige Szenen eine grosse Interpretationsfreiheit. Was bleibt ist die Freiheit als Antrieb für die Figur und die Regisseurin.