Besonders gefallen hat Felix Schenker hingegen «Patagonia» von Simone Bozzelli. Eine Geschichte über Macht, Machtmissbrauch und seelische Abhängigkeit. Nicht ganz leicht zu ertragen, aber betörend gut.
Felix Schenker: Wertung Top und Flop Locarno Film Festival 2023
- Publiziert am 13. August 2023
Einen spezifischen Flop mag der arttv Chefredaktor nicht nennen. Es waren zu viele, insbesondere auf der Piazza Grande. Was ist da eigentlich los?
Patagonia | Synopsis
Der 20-jährig, geistig leicht zurückgebliebene Yuri lebt wohlbehütet bei einer älteren Tante in einem kleinen Dorf in den Abruzzen. Eines Tages kommt der Clown Agostino in ihr Dorf, dessen angeblich freies Leben Yuri zu träumen beginnen lässt. Gemeinsam malen sich Yuri und Agostino ein Leben in Patagonien aus. Es ist ein Leben, das für Yuri aber bald von Abhängigkeit sowie durch emotionalen und sexuellen Missbrauch geprägt sein wird.
Schlechtester Film: Die Piazza Grande
Das Positive vorweg. Der internationale Wettbewerb des Locarno Film Festivals 2023 hatte ein paar wirklich herausragend gute Filme im Programm. Leider gab es auch dieses Jahr – über alle Sektionen gesehen – viel zu viele Ausreisser. Aber das liegt im Wesen eines Filmfestivals und ist nicht weiter schlimm. Problematischer zeigt sich die Situation auf der Piazza Grande. Zwar war mit «Anatomie d’une chute», dem Gewinner von Cannes 2023, ein ausgesprochen guter Film zu sehen. Und das mit einer Sandra Hüller, die eine schauspielerische Leistung vorlegt, die mehr als oskar-würdig ist. Ansonsten waren die Filme jedoch mehrheitlich mittelmässig und oft von betörender Langeweile. Das ist erstaunlich! Denn bei diesem magischen Ort mit der grössten Leinwand Europas denkt man, dass sich die Produktionsfirmen und Verleiher darum reissen, ihre Filme auf der Piazza Grande laufen zu lassen. Dem ist anscheinend nicht so oder aber die Auswahlkommission schiesst sich selber ins Bein, in dem sie sich auch für die Piazza Grande zu avantgardistische Massstäbe setzt.
Hier sollten Filme laufen, die dem breiten Publikum gefallen. Filme, die bekömmlich sind wie ein schmackhafter Sommer-Cocktail und ein solcher darf ja durchaus auch mal bitter oder heftig sein. Warum also nicht vermehrt einfach die Publikumsmagnete oder Siegerfilme anderer, vorausgegangener Festivals zeigen? So wie das mit «Anatomie d’une chutet» der Fall war oder mit «Theater Camp» von Molly Gordon und Nick Lieberman, dem Publikumsgewinner vom Sundance 2023. Oder noch besser, die kommenden Kino-Highlights als Vorpremiere abfeiern. So wie es das Zurich Film Festival seit seinem Beginn mit grossem Erfolg macht. «Barbie» oder «Oppenheimer» hätten eigentlich ihre Schweizer Premieren in Locarno feiern müssen, inklusive den dazugehörigen Stars. Denn selbst für Schauspieler:innen wie Emily Blunt, Robert Downey Jr., Matt Damon oder einer Regisseurin wie Greta Gerwig dürfte es ein einmaliges Erlebnis sein, 8000 Filmliebhaber:innen in einer lauen Sommernacht mit grossem Kino zu beschenken.
Bester Film: «Patagonia» von Simone Bozzelli
Die Geschichte über einen geistig leicht zurückgebliebenen jungen Mann war einer der eindrücklich Filme des Festivals. «Patagonia» ist aber mit Sicherheit auch gleichzeitig einer der ekligsten Filme, der es ins Programm der 76. Ausgabe des Locarno Film Festivals geschafft hat. Eine Schlüsselstelle, die das Machtgefälle zwischen dem jungen Mann und seinem «Förderer» besonders verdeutlicht – an dieser Stelle aber nicht verraten sein soll – geht ziemlich an die Nieren. (Eine etwas weniger explizite Ausformulierung dieser Szene wäre wünschenswert gewesen.) Definitiv kein Film für Menschen mit schwachen Nerven. Trotzdem erhofft man sich für den Film einen Schweizer Verleiher, denn Simone Bozzellis Film ist Kino, wie man es nicht allzu oft zu sehen bekommt.