Der dritte Spielfilm von Emmanuel Courcol, der bei den Filmfestspielen von Cannes Premiere feierte, handelt von zwei musikalischen Brüdern, die getrennt aufgewachsen und in sehr unterschiedlichen musikalischen Welten tätig sind: Der eine ist international renommierter Dirigent eines klassischen Orchesters, der andere spielt Posaune in einer Blaskapelle. arttv.ch hat den französischen Regisseur Emmanuel Courcol und seine Drehbuchautorin Irène Muscari getroffen.
Emmanuel Courcol und Irène Muscari | EN FANFARE
- Publiziert am 22. Dezember 2024
«Ich mag Filme mit dieser Attitüde des britischen Sozialkinos, das Komödie und Drama vor dem Hintergrund harter Realitäten mischt.»
EN FANFARE | SYNOPSIS
Thibaut ist ein international bekannter Dirigent, der durch die ganze Welt reist. Als er erfährt, dass er adoptiert wurde, entdeckt er die Existenz eines Bruders, Jimmy, der in einer Schulkantine arbeitet und in einer Blaskapelle in Nordfrankreich die Posaune spielt. Scheinbar trennt sie nichts ausser der Liebe zur Musik. Als Thibaut die aussergewöhnlichen musikalischen Fähigkeiten seines Bruders entdeckt, macht er es sich zur Aufgabe, die Ungerechtigkeit des Schicksals zu beheben. Jimmy beginnt, von einem anderen Leben zu träumen…
Interview von Ondine Perier
Emmanuel Courcol, EN FANFARE ist Ihr dritter Spielfilm. Bereits in UN TRIOMPHE ging es um die Kunst als Mittel zur Emanzipation. Was hat Sie dazu bewogen, sich erneut mit diesem Thema zu befassen? Diesmal treffen jedoch Klassische Musik und eine lokale Blaskapelle aufeinander?
Diese Idee schwirrte mir schon lange im Kopf herum. Ich hatte mich dem Milieu der Volksmusik, die mehrheitlich von Laien geprägt ist, bereits früher für ein anderes Projekt genähert. Die Idee hat sich im Laufe der Zeit weiterentwickelt und passt zu meinem Interesse am Zusammenprall von Kulturen und dem Aufeinandertreffen von Welten, die auf den ersten Blick gegensätzlich zu sein scheinen.
Was ist die Kernbotschaft des Films?
Mit EN FANFARE wollte ich erneut betonen, dass Kultur für alle zugänglich ist, wenn man es dann will, und dass es in allen gesellschaftlichen Schichten künstlerische Talente zu finden sind. Nur haben sozial besser gestellte Schichten eher die Möglichkeit diese zu entfalten. Darin lieg der Unterschied.
Ihr Film zeigt zwei ziemlich unterschiedliche Brüder.
Ja! Die beiden wurden von zwei unterschiedlichen Familien adoptiert und sind in unterschiedlichen sozialen Milieus gross geworden. Der eine glänzt auf den grössten Bühnen, der andere spielt die Posaune in einer lokalen Blaskapelle. Ich habe zuvor zwei Filme gedreht mit derselben Intension. Insbesondere in UN TRIOMPHE wird das deutlich. Es geht auch da um den Zusammenprall zweier Kulturen, Menschen im Gefängnis treffen auf die Welt des Theaters.
- Sie haben schon öfter mit dem bekannten französichen Regisseur Philippe Lioret zusammengearbeitet. Wie hat Sie diese Erfahrung beeinflusst?*
Die Arbeit mit Philippe war eine Lebensschule für mich. Ich war ursprünglich Schauspieler. Er hat mir sehr früh vertraut und mir ermöglicht, mit ihm zusammen Drehbücher zu schreiben. Diese Erfahrung hat mich viel über den Anspruch und die Präzision, die die Arbeit eines Drehbuchautors erfordert, gelehrt. Und ich war schon immer sensibel für die menschliche und soziale Dimension, die Philippe in seinen Filmen anspricht, etwa in WELCOME. All das schwingt in meinen eigenen Projekten, einschliesslich EN FANFARE, mit.
Ihr Film erinnert an Sozialkomödien wie DAS LEBEN IST EIN LANGER RUHIGER FLUSS, DIE VIRTUOSE, oder BILLY ELLIOT. Haben Sie diese Werke inspiriert?
Ja, natürlich, DAS LEBEN IST EIN LANGER RUHIGER FLUSS hat thematische Ähnlichkeiten mit EN FANFARE, insbesondere in Bezug auf den Kontrast zwischen verschiedenen sozialen Milieus. Aber stilistisch ist mein Film anders, er hat einen sanfteren, weniger grimmigen Ansatz. BILLY ELLIOT ist ein weiterer Film, der mich sehr geprägt hat. Ich mag Filme mit dieser Attitüde des britischen Sozialkinos, das Komödie und Drama vor dem Hintergrund harter Realitäten mischt.
Irène Muscari, EN FANFARE ist durchaus auch ein heiterer Film
Ja, in unserem Film wird viel gelacht, es gibt Leben. Das ist es, was uns interessiert. Es geht darum, das Leben in all seinen Aspekten wiederzugeben und in schrecklichen Situationen lachen zu können, ohne sich der Emotionen zu berauben. Es geht darum, seine Emotionen auf spontane Weise auszuleben, ohne Scham und ohne all das zu intellektualisieren.
Der Film zeigt eine lokale Blaskapelle im Niedergang, aber auch eine von Arbeitern besetzte Fabrik. Emmanuel Courcol, welche Bedeutung hat dieser doppelte Kampf – sowohl sozial als auch musikalisch – in Ihrer Geschichte?
Da der Film in Nordfrankreich spielt, hatten wir die Pflicht, den sozialen und wirtschaftlichen Kontext dieser Region zu erwähnen, die leider unter zahlreichen Fabrikschliessungen und somit unter endemischer Arbeitslosigkeit leidet. Das ist Teil des Settings, und es wäre ein Verrat an der Region gewesen, wenn wir den wirtschaftlichen Niedergang nicht thematisiert hätten.
Die Figuren Claudine, Sabrina und Jérémy verleihen dem Film Humor und Menschlichkeit.
E.C. Sie bringen ganz einfach Leben in die Sache. Sie existieren im Film, um die Vielfalt der Persönlichkeiten widerzuspiegeln, die man in einer Kleinstadt antrifft. Sie sind nie karikaturistisch. Ich wollte aber, dass sie alle eine starke Identität haben, auch wenn sie nicht im Vordergrund stehen. Ich achte immer sehr darauf, dass auch die Schauspieler:innen mit Nebenrollen respektvoll behandelt werden. Sie bereichern einen Film und verleihen ihm mehr Tiefe. Dies ist ein wichtiger Aspekt meiner Arbeit als Regisseur.
I.M.: Ausserdem wird dadurch der Blick auf die Welt und das Leben im Allgemeinen deutlich. Darum war es uns wichtig, diesen Nebenfiguren Leben einzuhauchen und ihnen eine echte Identität zu verleihen. Emmanuel hat dafür ein besonderes Talent. Er schafft es, selbst mit einfachen Einstellungen, dass wir das Wesen dieser Figuren schon bei ihrem ersten Auftreten erkennen. In unserem Film gelingt es uns, dass die Musiker:innen für die Zuschauenden leicht zu unterscheiden sind, selbst jene des klassischen Orchesters. Nachdem man sie ein erstes Mal gesehen hat, erkennt man sie bei ihren weiteren Auftritten sofort wieder.
Emmanuel Courcol, Sie habe als Schauspieler ihre Karriere begonnen und machen jetzt Regie.
Ja ,ich habe mit kleinen Rollen angefangen. Ich war oft nur für ein oder zwei Tage an einem Drehort. Das ist immer eine Herausforderung, denn man kommt in ein gut eingespieltes Team, steht bekannten Schauspieler:innen gegenüber und darf sich keine Fehler erlauben. Deshalb hatte ich mir geschworen, dass ich an dem Tag, an dem ich Regie führe, auch kleine Rollen mit grosser Sorgfalt behandeln werde. Ich bin bei Castings immer dabei und sorge dafür, dass sie gut geführt werden. Eine kleine Rolle ist nie unbedeutend: Sie ist der Held einer anderen Geschichte, die genauso spannend sein könnte, wenn man ihr folgen würde.
Letztlich wusste nur Thibauts Mutter, die von Ludmila Mikaël gespielt wird, von der Existenz Jimmys als Thibauts Bruder. Sie ist von Unausgesprochenem umgeben. Warum dieses Geheimnis?
E.C.: Wir haben uns die Mutter als ein Frau vorgestellt, die von ihrer Erziehung, ihrem Hintergrund und den Entscheidungen, die sie in ihrem Leben getroffen hat, stark geprägt ist. Eine relativ unterwürfige Frau, voller Reue und gleichzeitig eine Gefangene ihrer Erziehung und ihres Milieus. Es ist aber rührend, wie sie mit ihrem Sohn mitfühlt.
I.M.: Familiengeheimnisse und Unausgesprochenes sind in bürgerlichen Kreisen oft präsent, und das trägt auch zur Charakterisierung einer Figur bei.
*Der Film nimmt am Ende eine tragischere, düstere Wendung. War es nötig, die Botschaft der Hoffnung und Solidarität zu nuancieren?
E.C.: Ja, dadurch war es möglich, den Figuren und der Geschichte mehr Tiefe zu verleihen. Das Leben ist nie ganz rosig oder ganz dunkel. Ich wollte, dass der Film diese Realität widerspiegelt. Die Botschaft der Hoffnung und Solidarität bleibt intakt, wird aber durch das Bewusstsein gedämpft, dass nicht immer alles so läuft, wie man es sich vorgestellt hat. EN FANFARE ist eine dramatische Komödie, aber vor allem ist es die Komödie des Lebens. Da kann es selbst inmitten der glücklichsten Momente zu einem Drama kommen. Und paradoxerweise kann das Drama auch zu herzhaftem Lachen führen. So kann man zum Beispiel bei einer Beerdigung in schallendes Gelächter ausbrechen. Das ist das Leben mit seinen unerwarteten Kontrasten.
Ihr Film thematisiert die Annäherung eines elitären Orchesters mit einer Blaskapelle. Glauben Sie wirklich, dass eine Entgrenzung der Kulturen strukturell realisierbar ist?
I.M.: Ja, ich glaube daran, aber nicht an eine ständige und allgemeine Vermischung. Begegnungen zwischen verschiedenen künstlerischen Welten bleiben gelegentlich und wertvoll. Es ist gerade ihre Seltenheit, die sie so schön und wundersam macht. Sie geschehen aus ganz bestimmten Gründen, wie die Begegnung von Thibault und Jimmy im Film. Es sind Momente, die Wunder bewirken.
E.C.: Natürlich muss die Politik aktiv werden, um diese Begegnungen zu erleichtern, aber das ist ein Prozess, der Generationen dauern wird. Im Moment besteht unsere Aufgabe darin, diese Momente zu fördern und zu vervielfältigen. Ihre Seltenheit macht sie umso prägender in einem Leben, da sie manchmal ungeahnte Aspekte von uns selbst offenbaren. Wir sollten ihre transformative Kraft nicht unterschätzen.
Warum spiel Jimmys ausgerechnet Posaune und nicht etwa Trompete?
E.C.: Um Posaune zu spielen, braucht man ein äusserst präzises Gehör, da die Töne mit dem Zug erzeugt werden. Das muss auf den Millimeter genau stimmen und das ist exakt das, was Jimmys Charakter auszeichnet: Er hat ein absolutes Gehör, das es ihm ermöglicht, mit grosser Genauigkeit zu spielen. Das ist eine Besonderheit der Posaune im Vergleich zur Trompete, die Kolben hat, was sie mechanischer macht. Das heisst nicht, dass Trompete zu spielen einfach ist, aber bei der Posaune entsteht der Ton manuell, ähnlich wie bei einer Violine. Das finde ich faszinierend.
Zum Schluss: Arbeiten Sie bereits an Ihrem nächsten gemeinsamen Film?
E.C.: Ja, das Projekt ist aber noch in der Anfangsphase der Produktion. Die Dreharbeiten werden voraussichtlich im nächsten Frühjahr beginnen. Es wird ein anderer, intimerer Film, ein Familiendrama, das zum Teil in Grönland spielt.